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Binge Eating Essen, bis der Bauch schmerzt

Esssucht ist eine echte Sucht: Mit Genuss oder ungezügelter Lust am Essen hat die Binge-Eating-Störung nichts zu tun
Esssucht ist eine echte Sucht: Mit Genuss oder ungezügelter Lust am Essen hat die Binge-Eating-Störung nichts zu tun
© Colourbox
Binge Eater essen unkontrolliert, wie unter Zwang. Das verschafft ihnen aber keine Befriedigung, sie verspüren höchstens kurzfristig Erleichterung - bis die Scham und die Schuldgefühle kommen.

Mindestens zweimal in der Woche stopfen sie sich voll. Manchmal essen sie stundenlang. Allein, heimlich. Und sie essen viel mehr, als die meisten Menschen in der gleichen Zeit schaffen würden. Sie können nicht aufhören, Wurst, Käse, Kuchen und vieles mehr zu verschlingen. Es ist ein großes Gelage, das englische Wort dafür heißt "Binge". Typisch für Menschen, die als an der Esssucht leiden, sind auch Merkmale wie hastiges Essen, Essen ohne Hunger, Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl und essen ohne Gesellschaft -aus Verlegenheit über die große Menge. Diese Symptome verursachen bei den Betroffenen enormes Leid und den Wunsch nach Veränderung. Häufig leiden diese Personen zudem an immer wiederkehrenden Sorgen rund um das eigene Gewicht, die Figur und den Körper.

Mit Genuss oder ungezügelter Lust am Essen hat die Binge-Eating-Störung nichts zu tun. Im Gegenteil: Die betroffenen Personen haben in der Zeitspanne des Essanfalls oft ein Gefühl von Kontrollverlust, das bedeutet, sie machen die Erfahrung, dass sie nicht mehr kontrollieren können, wann sie mit dem Essen aufhören oder was und wie viel sie essen. Nach einer Attacke schämen sie sich, sind deprimiert oder ekeln sich vor sich selbst. Solche Schuldgefühle münden nicht selten direkt in die nächste Fressattacke. Ein Teufelskreis, aus dem Esssüchtige nur schwer wieder herausfinden.

Einige Personen, die von Essanfällen betroffen sind, leiten nach dem Essen Gegenmaßnahmen ein, sie erbrechen sich zum Beispiel, treiben exzessiv Sport oder nehmen Abführmittel ein. Wenn dies regelmäßig der Fall ist, spricht man nicht mehr von einer Binge-Eating Störung, sondern von einer Ess-Brech-Anfallsstörung, auch Bulimie genannt. In der Fachsprache heißt das Bulimia Nervosa.

Esssucht macht dick

Wie viele Menschen genau an einer Binge-Eating-Störung erkrankt sind, ist unklar. Experten schätzen, dass in Deutschland zwischen 800.000 und 2,4 Millionen Menschen daran leiden. Fettleibige sind besonders häufig betroffen: 40 Prozent der Fettleibigen, die einen Therapeuten aufsuchen, haben eine Binge-Eating-Störung.

Das Risiko zu erkranken ist höher, wenn Menschen schon als Kind übergewichtig waren oder ungünstige Ernährungsgewohnheiten haben. Im Übrigen sind etwa ein Drittel der Binge-Eater Männer, die sich aber seltener deswegen behandeln lassen.

Symptome

Wenn andere die Gabel zur Seite legen, ist für den Binge-Eater noch lange nicht Schluss. Das Gefühl für Hunger oder Sättigung hat er längst verloren. Er hört erst auf, wenn der Bauch schmerzt. Anders als ein Bulimie-Kranker versucht er nach einem Essanfall nicht, die Nahrung wieder los zu werden. Was zur Folge hat, dass er dicker und dicker wird.

Und damit hat der Esssüchtige bald ein körperliches Problem: Bei starkem Übergewicht drohen Bluthochdruck, Schlaganfall und Herzinfarkt aber auch Gelenkleiden, Wirbelsäulenschäden oder Diabetes.

Hinzu kommt der seelische Schaden: Nach den unkontrollierten Fressanfällen ekeln sich die Esssüchtigen vor sich selbst und flüchten vor der Realität in Tagträume. Sie empfinden Scham und leiden unter Schuldgefühlen, manche werden auch depressiv. Viele vermeiden den Blick in den Spiegel, um sich den Anblick ihres eigenen Körpers zu ersparen.

Diagnose

Eine Binge-Eating-Störung zu erkennen, ist für Außenstehende nicht leicht. Oft sogar auch für Ärzte, denn anfangs konzentrieren diese sich vor allem auf das Übergewicht und behandeln dies. Hat ein Arzt einen Verdacht auf Binge-Eating, achtet er innerhalb des Gesprächs mit dem Patienten, ob gewisse Merkmale der Erkrankung auftreten, etwa dass die Fressanfälle in einem Zeitraum von wenigstens sechs Monaten an mindestens zwei Tagen pro Woche auftreten.

Im weiteren Verlauf versucht der Arzt auch herauszufinden, ob der Betroffene wesentlich schneller als normal isst, ob er unkontrolliert über das normale Maß hinaus futtert - bis hin zu einem unangenehmen Völlegefühl. Verschlingt er womöglich große Nahrungsmengen, ohne dass zuvor ein Hungergefühl bestand? Isst der Betroffene meist allein und schämt er sich nach einem Anfall?

Zudem wird sich der Arzt dafür interessieren, ob sich seine Patientin in der Kindheit viel mit dem Thema Ernährung beschäftigt hat oder schon länger zu depressiven Verstimmungen neigt.

Therapie

Binge-Eating war lange Zeit nicht als eigenständige psychische Erkrankung klassifiziert und daher kaum erforscht. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Wissenschaftler haben sich dieser Essstörung angenommen, und inzwischen wurde sie auch im Klassifikationssystem der Fachwelt, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V), als Diagnose aufgenommen, um sie von anderen Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie abzugrenzen.

Die Behandlung einer Binge-Eating-Störung setzt in erster Linie bei Risikosituationen an, die Essanfälle auslösen. In einer Therapie können die Betroffenen lernen, ihre Essattacken zu stoppen. Das gelingt oft leichter, wenn sie sich gemeinsam mit einem Therapeuten die Gefühle und Situationen bewusst machen, die einen solchen Anfall auslösen. Manchmal sind es handfeste Depressionen, manchmal bestimmte Ängste oder Stress und Anspannung. Aber auch Ärger oder Langeweile können einem Essanfall vorausgehen.

Das zweite große Behandlungsziel ist, dass Esssüchtige lernen, regelmäßig, gesund und ausgewogen zu essen, um so ihr Übergewicht in den Griff bekommen. Ernährungsberater können helfen und ihnen Tipps geben, wie sie ihr Körpergewicht regulieren können.

Tipps

Wenn Sie an einer Essstörungen leiden, sollten Sie sich professionelle Hilfe suchen. Ein Experte kann Ihnen sagen, an welcher Störung Sie leiden und welche Therapie für Sie die beste ist. Unterstützung finden Sie auch in einer Selbsthilfegruppe: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann Ihnen Scham und Schuldgefühle nehmen und Ihnen bewusst machen, dass Sie nicht allein sind mit Ihrem Problem.

Außerdem gibt es einiges, das Sie selbst im Alltag tun können:

  • Versuchen Sie bewusst zu essen, also langsam und genussvoll. Kauen Sie jeden Bissen gut durch. Schlingen Sie ihn nicht einfach herunter.
  • Essen Sie regelmäßig, am besten zu festen Zeiten.
  • Lassen Sie sich beim Essen nicht durch Fernseher oder Computer ablenken. Denn Essen ist mehr als reine Nahrungsaufnahme. Essen ist etwas Sinnliches.
  • Statt auf alle Körpersignale nur mit Essen zu reagieren, sollten Sie genau unterscheiden: Haben Sie Durst? Sind Sie müde? Oder haben Sie wirklich Hunger?
  • Versuchen Sie, sich regelmäßig zu bewegen. Es reicht oft schon, die Treppe anstelle des Fahrstuhls zu nehmen oder regelmäßig einen langen Spaziergang zu machen.
  • Vermeiden Sie Streitgespräche oder unangenehme Themen bei Tisch.

Expertenrat

stern.de-Expertin Dr. Simone Munsch, Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Fribourg, Schweiz, beantwortet Ihre Fragen:

Spielen die Gene bei der Esssucht eine Rolle?

Generell muss man sagen, dass genetische Mechanismen von allen Faktoren bisher am schlechtesten untersucht sind. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass Betroffene besonders anfällig für seelische Störungen wie Depressionen oder Angstzustände sind. Teilweise versuchen sie, mit dem Essen negative Stimmungen zu regulieren, manchmal entstehen diese psychischen Symptome jedoch auch erst aufgrund des enorm hohen Leidensdrucks. Zudem scheinen Betroffene häufiger eine Veranlagung für Übergewicht in ihren Genen zu tragen.

Wo liegt die Grenze zwischen übermäßigem Essen und Essanfällen?

Richtige Essanfälle gehen mit einem totalen Kontrollverlust einher. Betroffene wissen in diesem Moment nicht mehr, was sie tun. Das erklärt auch den ganz besonderen Leidensdruck dieser Menschen: Sie fühlen sich machtlos und ferngesteuert, können sich teilweise nicht mal richtig an den Anfall erinnern. Das Essverhalten zwischen den Attacken ist zudem extrem chaotisch und unstrukturiert. Mal essen Betroffene bis vier Uhr nachmittags nichts, um dann im Zuge eines Anfalls große Mengen an Nahrung zu verzehren.

Werden nur Dicke esssüchtig?

Im Vergleich mit gesunden und normalgewichtigen Personen sind sie tatsächlich schon früh sehr sensibel mit dem Thema Essen umgegangen oder litten in ihrer Kindheit vielleicht schon unter ein paar Pfunden zu viel. Diese Vorbelastung ist allerdings bei anderen Essstörungen wie Magersucht und Bulimie sehr viel ausgeprägter.

Welche Altersgruppe ist besonders gefährdet?

Untersuchungen haben gezeigt, dass Binge-Eating besonders in zwei Altersgruppen anzutreffen ist: in einem Alter zwischen 20 und 30 Jahren und zwischen 40 und 50 Jahren.

An wen können sich Betroffene wenden?

Die gute Nachricht ist, dass diese Art von Essstörungen gut behandelbar ist und die Erfolgsraten recht hoch sind. Die Deutsche Adipositas Gesellschaft kann Betroffene beraten und Kontakte zu Fachleuten herstellen. Mittlerweile gibt es Leitlinien zum Umgang mit Binge-Eating, die in einer Therapie der Essstörung umgesetzt werden.

Nina Buschek/Nicole Simon

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