Die einzige Therapie für Zöliakie-Patienten ist, lebenslang auf glutenhaltige Produkte zu verzichten. Was so einfach klingt, ist in Wirklichkeit eine große Herausforderung - und bedeutet für die Betroffenen eine Abkehr von jahrzehntelangen Gewohnheiten. Der stern sprach mit Sofia Beisel, Leiterin des wissenschaftlichen Teams der Deutschen Zöliakie Gesellschaft in Stuttgart, über die Hürden im Alltag.
Frau Beisel, die Diagnose Zöliakie ist für viele Betroffene ein Schreck. Was bedeutet das für den Einzelnen?
Die Umstellung greift in jeden Lebensbereich. Betroffene müssen sorgfältiger einkaufen, sich genau informieren, neu organisieren, viel mehr planen als vorher. Und es betrifft nicht nur die Lebensmittel. Essen ist ja mehr als Nahrungsaufnahme, es ist ein Gemeinschaftserlebnis. Viele belastet es, dass sie nicht mehr so spontan sein können und alles, was mit dem Essen verbunden ist, im Vorfeld regeln und planen müssen. Oder dass sie sich immer erklären müssen.
Was vermissen die Betroffenen am meisten bei der glutenfreien Diät?
Brot. Wir haben in Deutschland eine Brotkultur, werden mit Brot groß. Zwar gibt es Alternativen, aber glutenfreie Brote sind anders, haben eine andere Konsistenz, riechen und schmecken anders. Das gilt auch für Nudeln. Daran muss man sich erst gewöhnen.
Manche fangen an, selbst zu backen.
Ja, das ist auch gut. Man muss nur wissen: Die Teige glutenfreier Brote und Kuchen verhalten sich anders, wenn das Klebereiweiß fehlt. Man muss andere Verdickungsmittel nehmen, Johannisbrotkernmehl etwa oder Guakernmehl. Oder man versucht, mit Quark oder Kartoffeln eine Teigbindung zu schaffen. Das bedarf ein bisschen Übung. Man sollte sich nicht entmutigen lassen, wenn die ersten Backergebnisse misslingen.
Wie lange dauert die Umgewöhnung in der Regel?
Das hängt vom Leidensdruck ab. Für Personen, die vorher Beschwerden hatten, steigt die Lebensqualität nach der Umstellung, weil es ihnen besser geht. Ihnen fällt es somit leichter. Wer aber vorher keine Symptome hatte, und das ist oft bei jungen Erwachsenen der Fall, dem fällt es schwerer, sich auf die neue Situation einzustellen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Erwachsene neben der glutenfreien zunächst auch eine laktosefreie Diät halten müssen.
Warum das?
Die Laktase, also das Enzym, das den Milchzucker abbaut, wird von den Zellen in der Dünndarmschleimhaut gebildet. Wenn diese abgeflacht ist, stoppt auch die Laktaseproduktion, Milchzucker wird dann nicht vertragen. Sobald sich aber die Dünndarmschleimhaut erholt hat, kommt oft auch die Laktaseproduktion wieder in Gang und Betroffene können langsam wieder anfangen, Milchprodukte zu sich zu nehmen.
Was ändert sich beim Einkaufen für Zöliakie-Patienten?
Man muss genau aufpassen, die Zutatenliste immer sehr aufmerksam lesen. Viele Produkte kommen für Zöliakie-Patienten nicht mehr in Frage, weil Gluten in stark verarbeiteten Lebensmitteln oft als technologischer Hilfsstoff eingesetzt wird, als Trägerstoff oder Bindemittel, etwa in Light-Produkten, Fertiggerichten, Joghurts, Wurst. Oft findet man Gluten auch dort, wo man es nicht vermutet, etwa bei Makronen. Eigentlich enthalten sie kein Mehl - das klingt für Betroffene erst einmal toll. Doch die Hersteller mengen dem Produkt Weizeneiweiß bei, um die Masse klebrig und ausformbar zu halten.
Wenn ein Produkt Weizen oder Gluten enthält, muss das angegeben sein. Reicht die Kennzeichnung?
Die Kennzeichnung dieser Stoffe ist sehr wichtig für Betroffene. Doch sie kann verbessert werden. Einmal gilt die Kennzeichnungspflicht bislang nur für verpackte Ware, das ändert sich ab Mitte Dezember, wenn die neue Lebensmittelinformationsverordnung in Kraft tritt. Danach müssen Hauptallergene, wozu auch Weizen und Gluten zählen, auch bei loser Ware angegeben werden. Daneben gibt es Einschränkungen durch die freiwillige Spurenkennzeichnung.
Was ist daran problematisch?
Sie ist aus unserer Sicht für Betroffene nicht sehr hilfreich, weil sie nicht gesetzlich geregelt ist. Wenn auf einer Packung steht "Kann Spuren von Gluten oder Weizen enthalten", geht der Verbraucher davon aus, dass in diesem Produkt tatsächlich Gluten steckt. Also lässt er es liegen. Der Hinweis kann aber aus zwei Gründen erfolgen: Zum einen, weil es bei der Produktion wirklich zu Verunreinigungen kommen kann, dann ist der Hinweis sinnvoll. Zum anderen kann er aber dort auch stehen, weil der Betrieb sich nur rechtlich absichern will. Das ist für Verbraucher eine Einschränkung. Zumal den meisten nicht klar ist, dass ein Produkt ohne diesen Hinweis genauso verunreinigt sein kann. Kontaminationen fallen nicht unter die Kennzeichnungspflicht.
Sind winzige Spuren von Gluten tatsächlich so gefährlich?
Es gibt einen Grenzwert für Gluten, der liegt bei 20 ppm (parts per million). Von dieser Menge weiß man, dass Betroffene sie sicher vertragen. 20 ppm entsprechen 20 Milligramm pro Kilogramm Lebensmittel, umgerechnet ist das ein Achtel Gramm Weizen. Würde man Ihnen das ins Gesicht pusten, müssten Sie sich kaum die Augen reiben. Das heißt: Kontaminationen können diesen Grenzwert sehr leicht überschreiten. Deshalb müssen Zöliakie-Patienten zum Beispiel auch glutenfreie Zahnpasta und Lippenstifte benutzen.
Was geschieht denn, wenn der Grenzwert überschritten wird?
Jeder hat unterschiedliche Toleranzgrenzen, die der Einzelne aber nicht kennt. Dafür haben wir ja den Grenzwert. Wird er überschreiten, kommt es vielleicht nicht sofort zu einer Abflachung der Darmschleimhaut. Aber es werden Entzündungsprozesse ausgelöst und Antikörper gebildet. Das ist messbar.
Worauf muss man im eigenen Haushalt achten, um sich vor Verunreinigungen zu schützen?
Auf einiges. Betroffene sollten ihren Vorrat durchforsten: Was ist an Fertigprodukten, Gewürzmischungen und Ähnlichem da? Wer alleine lebt, kann all das entsorgen. In einer Familie sollten glutenhaltige und glutenfreie Lebensmittel getrennt gelagert werden, damit es nicht zu Verunreinigungen kommt. Auch Speisen sollten weitestgehend glutenfrei zubereitet werden und eine getrennte Zubereitung auf zum Beispiel Nudeln begrenzt bleiben. Betroffene brauchen einen eigenen Toaster, weil glutenfreie Brote oft geröstet werden. Bestimmte Kochgewohnheiten müssen sich ändern, etwa das Bemehlen von Zwiebeln oder Bratkartoffeln, wie das in manchen Regionen üblich ist. Auch die Familie muss sich disziplinieren.
Inwiefern?
Wenn ein Familienmitglied vorher zum Beispiel jeweils mit dem eigenen Frühstücksmesser etwas Butter oder Marmelade aus dem Glas nahm, sollten sie das künftig lassen, damit nicht über Krümel Kontaminationen auftreten. Solche Dinge.
Was raten Sie Betroffenen, die auswärts essen müssen, etwa in der Kantine?
Ich würde ihnen raten, das Gespräch mit der Küche zu suchen, damit sie einen Eindruck davon gewinnen, wie diese arbeitet. Welche Nahrungsmittel werden eingesetzt, wie viele Fertigprodukte? In größeren Betrieben wird das Essen häufig selbst zubereitet, während Einrichtungen für Kinder eher mit Caterern zusammenarbeiten. Da ist der Träger in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass Speisen angeboten werden, die für Kinder mit Unverträglichkeiten geeignet sind.
Und im Restaurant?
Wir haben festgestellt, dass sich Restaurants zunehmend darauf einstellen. Doch auch hier ist es eine Frage des Preises: Je gehobener die Gastronomie, desto weniger Fertigprodukte werden eingesetzt. Betroffene sollten versuchen, Kellner und Koch klarzumachen, dass sie wirklich an einer Gluten-Unverträglichkeit leiden. Denn nicht selten wird das heutzutage belächelt, weil es ein Mode-Begriff ist, und der Koch denkt: Ach, schon wieder so ein Diätfreak!