Anzeige
Anzeige

Forschung Hungriges Hirn, dicker Bauch

Warum ist so schwer abzunehmen? Wenn das Hirn tatsächlich schuld ist, besteht Hoffnung - denn es lässt sich umprogrammieren
Warum ist so schwer abzunehmen? Wenn das Hirn tatsächlich schuld ist, besteht Hoffnung - denn es lässt sich umprogrammieren
© colourbox.com
Unser Denkorgan giert nach Zucker - und deshalb müssen wir essen, auch gegen alle guten Vorsätze. Lübecker Forscher vermuten darin eine Ursache für Übergewicht.
Von Rüdiger Braun

Schokoriegel, süß und knusprig, sind Manuelas Leidenschaft. Sie helfen der 36-jährigen Telefonistin, die hektische Schichtarbeit in einem Callcenter besser zu ertragen. Vor allem wenn die Arbeitsbelastung besonders hoch ist und ihr ungeduldiger, meist übellauniger Chef Druck macht, sind die Süßigkeiten für sie kleine "Wohlfühlinseln" im überwiegend frustrierenden Alltagsgeschehen. Nach der Arbeit kommt sie teilweise erst spätabends und oft völlig erschöpft nach Hause. Zum Ausgleich macht sie sich dann ein großes, leckeres Essen.

Seit sie bei ihren Eltern ausgezogen ist, lebt Manuela allein. Sie hatte noch nie eine feste Beziehung und fühlt sich häufig einsam und depressiv. Ihr starkes Übergewicht von 104 Kilogramm bei 169 Zentimeter Körpergröße macht ihr körperlich wie seelisch zu schaffen. Nach einer Gallensteinoperation verordnete ihr der Hausarzt eine Reduktionskost von maximal 1000 Kilokalorien pro Tag und Nordic Walking als Bewegungsprogramm. Doch schon nach wenigen Tagen brach Manuela die Diät ab, weil sie unruhig wurde und den bohrenden Hunger einfach nicht mehr aushielt.

Manuela ergeht es wie den meisten Abnehmwilligen: Ihr Verstand ist willig, aber der Appetit letztlich stärker. "Das Hungergefühl ist äußerst intensiv", schrieb Jeffrey Friedman im Fachblatt "Science". "Vielleicht nicht so stark wie der Drang zu atmen, aber wahrscheinlich nicht geringer als der Drang zu trinken, wenn man durstig ist. Diesem Gefühl muss ein Übergewichtiger widerstehen, sobald er merklich Gewicht verloren hat." Der amerikanische Genetiker und Appetitforscher war 1994 der erste Wissenschaftler, der ein Hormon entdeckte, das im Fettgewebe produziert wird und an der Regulation von Hungergefühl und Sättigung beteiligt ist: das Leptin. Inzwischen weiß man, dass mindestens 100 solcher Stoffe und ein kompliziertes neuronales Netzwerk an der Steuerung des Appetits beteiligt sind. Oberste Schaltzentrale ist eine erbsengroße Struktur im Zentrum des Gehirns, der Hypothalamus. Aber auch das Gefühlszentrum, das so genannte limbische System, und die Großhirnrinde mischen kräftig mit.

Stoffwechsel ist dauerhaft aus dem Gleis geraten

Bei stark Übergewichtigen ist dieses komplexe Zusammenspiel von Gehirn, Nervenimpulsen und Botenstoffen oft gestört, wie neuere Forschungen zeigen - und der Stoffwechsel dauerhaft aus dem Gleis geraten. Mögliche Folgen sind Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Störungen im Fettstoffwechsel, Gicht, Arteriosklerose sowie Herz- und Nierenversagen. Zwar muss nicht zwangsläufig krank werden, wer ein paar Pfund zu viel auf die Waage bringt. Im Gegenteil kann leichtes Übergewicht sogar lebensverlängernd wirken, wie amerikanische Wissenschaftler bei der Auswertung langjähriger Statistiken feststellten.

Wer jedoch die genetischen Anlagen für große Körperfülle mitbringt und außerdem einen Lebensstil mit wenig Bewegung und kalorienreicher Ernährung pflegt, ist stark gefährdet, dicker zu werden, als ihm guttut. Kritisch wird es ab einem Body-Mass-Index von 30 (BMI = Körpergewicht in Kilogramm/Körpergröße in Meter2), vor allem wenn sich das Fett oberhalb der Hüften ansammelt: bei einem Bauchumfang von mehr als 94 Zentimetern bei Männern und mehr als 80 bei Frauen.

Die gute Nachricht: Mit gesünderer Ernährung, regelmäßiger Bewegung und Stressmanagement lässt sich das Krankheitsrisiko erheblich vermindern. Die schlechte: Den meisten fällt es unsagbar schwer, ihr Leben zu ändern. Gnadenlos belegt die Statistik, dass nach fünf Jahren die meisten Abnehmwilligen so dick sind wie zuvor, viele haben sogar noch zugelegt - sie sind Opfer des berüchtigten Jo-Jo-Effekts. "Wenn eine Diät nicht in ein langfristiges Therapiekonzept eingebunden wird, liegt die Rückfallquote bei fast 100 Prozent", sagt Hans Hauner, Professor für Ernährungsmedizin und Leiter des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums der Technischen Universität München. Deshalb setzen moderne Behandlungsmethoden nicht auf kurzfristige Abspeckeffekte, sondern auf eine dauerhafte Veränderung der Lebensweise.

Ungezügeltes Essverhalten wegen Störungen im Hirnstoffwechsel?

Weshalb haben so viele Menschen so sehr damit zu kämpfen, die Trägheit des Gewohnten zu überwinden? Dafür hat nun ein interdisziplinäres Wissenschaftlerteam unter Leitung des Lübecker Diabetologen Achim Peters eine ungewöhn¬liche Erklärung gefunden: Störungen im Hirnstoffwechsel könnten Ursache für ungezügeltes Essverhalten sein.

Das Ergebnis beruht auf einer mehr¬jährigen Forschungsarbeit, bei der das Team aus Internisten, Hirnforschern und Psychiatern mehr als 50 Normal- und Übergewichtige genau beobachtete. Mit modernen bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) gelang es den Wissenschaftlern, während verschiedener Belastungssituationen die Energieversorgung im Gehirn im Vergleich zum restlichen Körper zu messen. Dabei konnten sie zeigen, dass das Gehirn immer zuerst die eigene Energieversorgung sicherstellt, bevor es Muskeln, Organen oder dem Fettgewebe etwas zuteilt. Es steuert den Stoffwechsel zu seinen Gunsten, weshalb die Forscher vom "Selfish Brain", vom "selbstsüchtigen Gehirn", sprechen.

Kein anderer Bereich des menschlichen Organismus ist so gefräßig wie das Gehirn. Obwohl es bei Erwachsenen nur etwa zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es rund 20 Prozent der Energie. "Das Gehirn orchestriert und manipuliert den Energiestoffwechsel", sagt Achim Peters. "Wenn es ihm nicht gelingt, ausreichend Energie für sich aus dem Körper anzufordern, gleicht es die Unterversorgung dadurch aus, dass es die Nahrungsaufnahme steigert und dem Körper den Energieüberschuss überlässt. Auf diese Weise kann langfristig eine Adipositas, also Fettleibigkeit, entstehen."

Viele Menschen verbinden Essen mit Trost und Ent¬spannung

Eine solche Ausweichstrategie "zwingt" den Organismus, mehr energiereiche Nahrung aufzunehmen, als gut für ihn ist. Der zentrale Regelungsmechanismus des Energiestoffwechsels ist aus Sicht der Lübecker Forscher das Stresssystem des Menschen. Befindet es sich über einen längeren Zeitraum im Ungleichgewicht, zum Beispiel durch psychische Beeinträchtigungen wie eine Depression oder Stressbelastung, könne das den Appetit über die Maßen steigern. Denn viele Menschen verbinden Essen mit Trost und Entspannung. Vor allem zuckerhaltige Speisen mildern nachweislich die Stressreaktion und wirken stimmungsaufhellend. Wer solch ein Trostessen über Jahre hinweg praktiziert, sorgt unweigerlich dafür, dass sich diese positive Verknüpfung in sein Hirn eingräbt.

Peters vermutet einen Zusammenhang zwischen beschleunigten Lebensumständen und Gewicht: "Verstärkte Stressbelastung durch höheren Konkurrenzdruck, Hektik im Alltag, Schichtarbeit oder Zusammenleben auf engstem Raum könnte erklären, weshalb es in den Industriegesellschaften immer mehr adipöse Menschen gibt." Wenn die Fettpolster größer werden, sinkt die Bereitschaft zu körperlicher Aktivität, der Mensch wird träge. "Bewegung wird als unangenehm empfunden", erläutert der Stoffwechselexperte das Phänomen, "weil in unserem Gehirn der Zucker knapp wird."

Ausweg aus dem Dilemma: Durch ein gezieltes Training und schrittweise Gewöhnung könne das Gehirn so umprogrammiert werden, dass es die Energieressourcen besser zwischen Kopf und Körper verteilt. Ihre Erkenntnisse nutzen die Wissenschaftler der Universität Lübeck derzeit als Grundlage, um "ein völlig neuartiges Abnehmkonzept" zu erarbeiten, bei dem Verhaltenstraining und Problemlösungsstrategien im Mittelpunkt stehen.

Entgleisten Stoffwechsel in die richtigen bahnen Lenken

Erste Erfahrungen damit zeigen, dass es möglich ist, die entgleisten Stoffwechselreaktionen schrittweise wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. "Das funktioniert wie bei Spitzensportlern", sagt Peters, "die durch hartnäckiges Training erreichen, das Energieverhältnis zwischen Gehirn und Körper immer mehr zu optimieren."

Auch die unter ihrer Körperfülle leidende Telefonistin Manuela hat davon profitiert, nicht aufzugeben: Obwohl es mit der Diät nicht klappte, blieb sie beim Nordic Walking hartnäckig. Anfangs war sie bereits nach einem knappen Kilometer so erschöpft, als würde sie "gegen eine Wand laufen". Doch mit der Unterstützung ihrer Trainingsgruppe schaffte Manuela nach zwei Monaten bereits sechs Kilometer am Stück, stolze fünf Kilo blieben bislang auf der Strecke. "Ideal wäre", sagt Achim Peters, "wenn sich nun auch noch ihre psychischen Probleme und die Dauerstressbelastung am Arbeitsplatz beseitigen ließen. Dann würde Manuela ihr Gewichtsproblem höchstwahrscheinlich in den Griff bekommen."

Mehr zum Thema Bauch weg finden Sie auch bei unserem Partner fitforfun.de

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel