Politische Initiative Die Einsamkeit in Deutschland nimmt zu – warum das für Demokratie und Gesundheit gefährlich ist

Ein Mann sitzt einsam an einem Tisch und legt seinen Kopf deprimiert darauf ab
Einsamkeit ist eines der drängensten Probleme unserer Gesellschaft, doch was möchte die Regierung dagegen unternehmen?
© Getty Images
Eines der drängendsten Probleme unserer Gesellschaft ist die Einsamkeit. Eine lobenswerte Initiative des Bundesfamilienministerium dagegen wird wohl am Geld scheitern.

Dieser Kommentar erschien am 13.12.2023, nachdem das Bundeskabinett eine Strategie gegen Einsamkeit mit mehr als 100 Maßnahmen verabschiedet hat.

Mehr Forschung, Modellprojekte in Kommunen, breite gesellschaftliche Bündnisse gegen Missstände – kommt Ihnen das bekannt vor? Es klingt nach dem Universalrezept von Bundesregierungen, mit dem drängende Probleme im Gesundheits- und Sozialwesen bekämpft werden sollen. Mal geht es um die ambulante Altenpflege, mal um eine bessere Vernetzung zwischen Hausärzten und Krankenhäusern. Und heute geht es um eines der drängendsten Themen unserer Zeit: Die stark zunehmende Einsamkeit in unserer Gesellschaft. 

Das Kabinett verabschiedete soeben eine "Strategie gegen Einsamkeit" mit mehr als 100 Maßnahmen. Was da nicht alles an guten Ideen drinsteht: Neue Lehrstühle für Einsamkeitsforschung, Gründung einer bundesweiten "Koalition gegen Einsamkeit" aus Unternehmen, Gewerkschaften, Verbände, Initiativen, Stiftungen, Vereine oder Religionsgemeinschaften, Modellprojekte gegen Einsamkeit in der Altersgruppe der 28- bis 59-Jährigen.

Einsamkeit ist hochgefährlich für die Gesundheit – und die Demokratie

All das ist dringend nötig, denn Einsamkeit ist hochgefährlich, nicht nur für die Gesundheit, auch für die Demokratie. Menschen mit extrem ausgedünnten sozialen Netzwerken erkranken langfristig häufiger an Depressionen und Diabetes, sie erleiden öfter Schlaganfälle und Herzinfarkte, sie sterben viele Jahre früher. Sprich: Eine wirkungsvolle Bekämpfung der Einsamkeit würde mittelfristig wohl Milliardenausgaben im Gesundheitssektor sparen helfen. Doch damit nicht genug: Chronische Einsamkeit gefährdet die Stabilität von liberalen Zivilgesellschaften. 

Diese These formulierte die Publizistin und Theoretikerin Hannah Ahrendt in ihrem Standardwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Ihr zufolge war die Verbreitung tiefsitzender Einsamkeitsempfindungen ein wichtiger Faktor, der der nationalsozialistischen Bewegung den Weg bereitet hat. Einzelfallanalysen der Täter bei Schulmassakern und terroristischen Attentaten belegen: Häufig spielte Einsamkeit eine wesentliche Rolle. Eine aktuelle Befragung der Bochumer Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann unter jungen Erwachsenen zeigt: Einsame Menschen verlieren häufiger das Vertrauen in die Demokratie und neigen eher zu Verschwörungstheorien als solche, die sozial gut eingebunden sind. 

Und gerade diese jungen Menschen wurden in den Jahren der Pandemie gebeutelt. Ihre sozialen Netzwerke brachen während der Lockdownphasen weg, viele verkrochen sich zuhause vor ihren Computern, wofür ein US-amerikanischer Psychologe das Wort „Cave-Syndrom“ (Cave: Höhle) erfand. Offenbar haben sich viele auch nach der Pandemie noch nicht von der Phase des staatlich verordneten Rückzugs erholt: Fast jeder siebte Jugendliche und junge Erwachsene in Nordrhein-Westfallen fühlt sich einer aktuellen Befragung zufolge „stark einsam“.

Eine Fülle an Initiativen, aber keine dauerhafte Finanzierung

Das Strategiepapier des Bundesfamilienministeriums ist also höchst begrüßenswert. Gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen konnte niemand etwas haben, und doch hat es einen Pferdefuß: Der Beschluss ist nicht mit verbindlichen Kostenzusagen verbunden ist. Wohlfeil also. Deshalb droht diese Initiative ein Rohrkrepierer zu werden. Und das, obwohl Deutschland grundsätzlich besser dasteht als viele andere europäische Länder. Die Einsamkeitsforschung befindet sich erfreulicherweise schon länger im Aufwind. Es gibt mehr Vereine, mehr Chöre, größere Wohlfahrtsverbände, mehr Ehrenamtliche, der dritte Sektor der Zivilgesellschaft ist sehr gut ausgebaut. 

Unter dem Dach des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. wurde ein „Kompetenznetz Einsamkeit“ gegründet, auf der Website findet man unter „Angebote“ eine Vielzahl von Initiativen gegen die Vereinzelung – von der ehrenamtlichen bundesweit tätigen Telefonhotline „Silbernetz“ für Seniorinnen und Senioren über das bundesweite Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de bis hin zu Apps für jüngere Betroffene wie „helpcity“, wo sich Menschen in ähnlichen Lebenssituationen anonym untereinander austauschen können. 

Es gibt also eine wahre Fülle an Angeboten, es gibt zahlreiche Modellprojekte. Nur droht ihnen ständig das Geld auszugehen. Statt weiterer Modellprojekten wäre endlich eine langfristige Finanzierung der schon bestehenden Initiativen und Vereine nötig.

Vorbild Großbritannien: Sozialverschreibungen durch Ärztinnen und Ärzte

Die Bekämpfung von Einsamkeit kostet Geld. Viel Geld. Dies ist eine schmerzhafte Erkenntnis aus Großbritannien, wo der Sozialstaat in der Thatcher-Ära zerbröselte. An den Folgen, größere soziale Ungleichheit und höhere Armut, beides treibende Faktoren für mehr Einsamkeit, leidet die britische Gesellschaft bis heute. Der staatliche Einfluss auf den Wohnungsbau und den Ausbau kommunaler Infrastrukturen und Quartiere schwand und damit auch die Möglichkeiten zu gegenseitiger sozialer Unterstützung und Begegnung. Das staatliche Gesundheitswesen, der National Health Service, wurde zusammengespart. 

Doch aus der Not machten die Briten eine Tugend und erfanden das „Social Prescribing“, eine „Sozialverschreibung“, die uns nun als Vorbild für Deutschland dienen könnte. Im Zentrum stehen die oft letzten regelmäßigen Ansprechpartner der Einsamen, die Hausärztinnen und -ärzte. Vermuten sie, dass das Grundproblem eines Patienten, der vor ihnen sitzt, eigentlich nicht die Krankheit, sondern die Vereinzelung ist, öffnen sie auf ihrem Computer ein Formular, das in einer Minute auszufüllen ist. Sie kreuzen dort „Einsamkeit“ an, vielleicht auch noch Nebenfaktoren wie „hohe Verschuldung“ oder „Substanzmissbrauch“ und klicken auf Senden. Dann übernimmt ein sogenannter „Link Worker“ im Auftrag der Kommune das Ruder. Nach einer ausführlichen Beratung vermittelt er die Vereinsamten an Vereine, Tanz- oder Malkurse und organisiert bei Bedarf auch Termine für eine Psychotherapie. Aber oft ist den Menschen auch schon damit geholfen, dass jemand sie an die Hand nimmt und in kleinen Schritten zurück in die Gesellschaft führt.

Natürlich wären Sozialverschreibungen auch für Deutschland wünschenswert. Um sie einzuführen, wäre jedoch ein größerer Eingriff in eines der komplexesten rechtlichen Regelwerke unseres Landes nötig: Die Sozialgesetzbücher. Denn Einsamkeit hat nicht den Status einer Krankheit, es gibt dafür keine Abrechnungsziffer. Hier muss ein Kompetenzteam aus Rechtswissenschaftlern ran, nicht Psychologinnen oder Einsamkeitsforscher.

Der Kampf gegen Einsamkeit wird an der Schuldenbremse scheitern

Die Dringlichkeit, Deutschlands Ärztinnen und Ärzte in den Kampf gegen die Einsamkeit einzubinden, wurde längst erkannt, an der Charité wurde kürzlich ein bundesweites „Netzwerk Social Prescribing“ gegründet. Man sei derzeit noch dabei, passende deutsche Bezeichnungen für Schlüsselbegriffe wie „Link Worker“ zu finden, sagt der Initiator und Allgemeinarzt Wolfram Herrmann.

Im Bezirk Berlin-Lichtenberg will man nicht so lange warten. Dort hat Martyna Voß, Gründerin und Projektleiterin des Vereins Soziale Gesundheit e.V., die soziale Beratung auf Rezept gleichsam schon eingeführt, auch wenn es das Rezept selbst noch nicht gibt. Doch viele Ärztinnen und Ärzte schicken die Vereinsamten zu ihr und ihren Mitarbeitern. Zwei Allgemeinärztinnen vor Orten stellen in ihrer Gemeinschaftspraxis sogar schon einen separaten Raum für Sozialberatung zur Verfügung. Woran es in der Vergangenheit immer wieder chronisch mangelte, ist – man ahnt es – die Finanzierung. Dem Verein drohte schon öfter das Aus, nachdem Fördermittel ausgelaufen waren, weil das Konzept sozialrechtlich nicht verankert ist.

Es bleibt zu hoffen, dass irgendeine Bundesregierung irgendwann erkennt, dass es mit schönen Worten nicht getan ist, wenn danach kein Geld fließt. Dass die Bekämpfung von Einsamkeit mehr erfordert als immer neue Modellprojekte, ein bisschen Forschung und mehr Therapieplätze, die es mangels Psychotherapeuten vorhersehbar nicht geben wird. Dass es dringend notwendig ist, Armut zu bekämpfen, in den sozialen Wohnungsbau, in Schulen, Bildung und ehrenamtliche Initiativen zu investieren, um dieses so brennende Thema fest zu verankern. 

Ob die amtierende Bundesregierung, die getrieben von der FDP vor allem die Schuldenbremse im Blick behalten muss, zu diesem Weitblick in der Lage ist, daran bestehen leider begründete Zweifel.

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