25. Januar
"Ich gehe Klavier spielen", sagte Reni nach der "Tagesschau". "Und ich hätte Lust... Sollen wir? Wir könnten ja noch ein Gläschen Wein trinken." "Ja, wir sollten und könnten."
Später hinauf ins Bad. Am Schlafzimmer vorbei, wo Reni, schon im Pyjama, noch eine Passage ihrer Sonatine übt. Rasch das Pulver auflösen, in die Spritze aufziehen, mein Parterre gründlich waschen, Haut desinfizieren - und hineingestochen ins potenzielle Vergnügen. Nach einer knappen Viertelstunde wird er hart und lang. Aber dicht schließt er auch dieses Mal nicht ab. Vermutlich reicht die Erektion nicht bis zur Peniswurzel, sodass die Harnröhre an dieser Stelle nicht abgedichtet wird. Nach den ersten störenden Tropfen fällt es mir ein: Haben wir ein Präservativ?
Ohne Schutz und Schirm vor ungebetener Nässe fehlt uns nämlich beiden die Lust. Nackt bis auf meine Windel flitzen wir in der Wohnung umher, wühlen in den Necessaires, wir reißen alle Nachttischschubladen auf. Umsonst.
"Im Männer-WC im 'Bahnhöfli', da wird's einen Automaten haben. Ich hole uns Material. Wie der Blitz." Allein schon das Anziehen wie der Blitz wird problematisch. Er reckt sich stramm nach vorn und nicht, wie in gesunden Zeiten, fast bolzengrad nach oben. Hochklappen tut weh, Krümmen noch mehr. Die Windel möglichst locker drum herum, in die weiteste Hose und in die schwarze, zu lange Lederjacke geschlüpft, die wie ein Vorhang die kritische Stelle bedeckt, wenn ich mich manierlich verneige. Und los wie der Blitz. Es schneit.
Diskret krumm und mutig hinein ins Hotel Bahnhof. Beim Ausschank der immerfreundliche Kroate, der mich seit Langem kennt und der mir in Gottesnamen auch bekannt ist. Eilig treppab, als hätte ich große Not - kein Automat. Ich hätte schwören können, dass da früher - die spinnen ja wohl!
Beim Bahnhof? Die Tür zum WC abgeschlossen. Nicht zu glauben! Muss ich denn wirklich noch bis Gstaad? Ich muss. Abwechselnd ein bisschen liegend sitzen oder sitzend liegen im Auto tut gut, denn er schmerzt, aber ich spüre zufrieden, wie hart er geworden und geblieben ist.
In die Gstaader Autoeinstellhalle? Gute Idee. Die Halle menschenleer, und trotzdem gehe ich trainingshalber vorn-über geneigt, ziehe mit den Händen in den Taschen die Jacke vorn ein bisschen tiefer, verschwinde im WC. Unglaublich. Auch hier nichts.
Fluchend die Treppe hoch. Also wei¬ter in den 'Bernerhof'. An der Réception die sehr nette Dame, die mich von etlichen Krankenbesuchen im Hotel kennt. Es ist nämlich inzwischen zwanzig nach neun, Renata wartet, und ich habe doch gesagt: wie der Blitz. Und tapfer trete ich näher, mich verbeugend: "Wissen Sie zu¬fällig, gibt's im Hotel-WC einen Automaten für Präservative?" Einen halben Augenaufschlag lang scheint sie irritiert, aber sogleich wirkt sie wieder dienstlich. "Ich glaube... nein, hat's nicht. Aber drüben beim Bahnhof, dort sicher. Ja, dort sicher. Gute Nacht, Herr Doktor."
Ja gottfriedstutz - Herr Doktor...! Gar nicht Herr Doktor. Ein Kalb mit einem undichten Steifen auf der Jagd nach einem Pariser, das ist alles. Aber es darf ja nicht sein: Jetzt wird er doch wahrhaftig weicher. Wie ist das möglich? Aufrecht und mit größeren Schritten hinüber zum Bahnhof.
Rasch die Bahnhoffront inspiziert - kein Automat. Um die Ecke ins WC, nichts. Das kann ja einfach nicht sein. Gstaad, ein weltbekannter Ferienort, und keine Pariser im Bahnhofareal! Mein Fluchen jetzt schon lauter. Aufgeben?
Einen Versuch noch. Ich gehe zur Einstellhalle zurück und fahre nach Saanen. Der Parkplatz beim Hotel Landhaus besetzt, ich müsste bis zum Bahnhofplatz - da löscht es mir ab. Schluss, fertig. Der Abend ist futsch. Die Erektion auch. Warum eigentlich, wenn sie andere Male stundenlang gehalten hat? Spielt die Psyche doch noch irgendwie mit? Ist es die sitzende Position?
Ich wende und gebe Gas. Gut dreiviertel Stunden bin ich weg gewesen. Was für ein Seich mit meinem Seich*... Reni nackt unter dem Leintuch, Weinflasche und Gläser auf dem Nachttisch. Ich ziehe mich aus und rapportiere. Wir stoßen an, ihr Gesicht gequält, enttäuscht. Und das Schlimmste: Er steht nicht mehr. Schweizer Dialekt für 1. Urin, 2. "Scheiß"
"Ich spritze noch fünf Milligramm!", und ab ins Bad. Aber komischerweise hilft der Nachschub vorerst nicht. Missstimmung und Fiasko kriechen ins Ehebett. "Cäsar, du Nachtschwärmer und WC-Inspektor, ich hab eine Massage nötig..."
Die Massage bringt's, besser und besser. Auch wenn es nicht ganz einfach ist und uns viel Humor abverlangt. Nun also ein Novum: in Unterhose und Windel.
7. April
Heute vor einem Jahr Krebsoperation. Ja und? Ein Jahr überlebt - und eigentlich ganz gut überlebt. PSA tief geblieben. Seicherei trotz Beckenbodentraining nicht im Griff. Spritze und Impotenz: Eine Krücke ist immer noch besser als Kriechen. Im Übrigen: Zum Teufel mit dem Selbstmitleid.
15. Mai
Gestern unter der Praxispost eine Wer¬bung für ein "Vakuum-Erektions-System" gefunden. Ich suchte zu diesem Thema einen Fachartikel heraus, der mir früher schon einmal zwischen die Finger gekommen war. Vorhin habe ich Reni am Telefon daraus vorgelesen: ",Das Wirkprinzip besteht darin, dass ein Kunststoffzylinder luftdicht über das Glied gestülpt und dann mit einer Pumpe ein negativer Druck von bis 225 mm Quecksilber hergestellt wird. Der Penis füllt sich passiv mit Blut. Nach Erreichen einer genügenden Festigkeit wird ein Gummiring auf die Penisbasis abgestreift, wodurch eine Obstruktion des venösen Rückflusses entsteht. Das distal vom Ring abgeschlossene Blut wird von der Zirkulation abgeschaltet' - hörst du überhaupt noch zu? 'Die Blockade wird auf 30 Minuten Dauer beschränkt. Die fehlende Zirkulation führt zu einer Temperatur-abnahme von etwa 1 Grad Celsius und einer blauvenösen Verfärbung.'"
"Also nichts für langsame Liebespaare", unterbrach sie. "Und kalt und blau wird er auch noch. Aber wir sind ja schon einiges gewöhnt und auch schon schnell und hitzig gewesen. Meinst du, wir könnten es noch so Tempo, Tempo?" "Im Tessin, da gebe ich 3M-Garantie bei Muße, Mondschein und Merlot." "Mein Okay hast du", sagte Renata.
19. Mai
Die Vakuumpumpe ist eingetroffen. Ein Hebelchen klemmt. Auch regt sich mein Verdacht, die Tube mit dem Gel zum Abdichten zwischen Penisbasis und Kunststoffzylinder sei schon einmal offen gewesen; das Stannioldeckelchen fehlt.
Das Ganze enttäuscht zurück an den Absender. Ich will ein fabrikneues Modell, oder die Bestellung ist annulliert. Allerhand Leute und allerhand Firmen scheinen mit der Impotenz Geschäfte zu machen. Aber im Grund genommen vermarkten sie nicht ihre Produkte. Sie vermarkten unsere Not.
20. Juni - 4. Juli
Brissago. Ich liege mit geschlossenen Augen in Badehose und Windel auf dem Boot. Plötzlich Renata nackt und warm über mir. Sie umarmt und küsst mich, presst ihren Schoß mit aller Kraft zwischen meine Beine. Irgendwo im Parterre empfinde ich ein angenehmes Gefühl, aber leider nichts anderes. Sie spürt mich ein bisschen, weil ich die Beckenbodenmuskulatur mit aller Kraft anspanne, wie ich es seit einem Jahr mit wenigen Ausnahmen täglich tue, aber es bleibt auch an diesem ersten heißen Ferientag ein Wunsch, dass er je wieder spontan stehen könnte.
Ihr Vorschlag: "Probieren wir doch heute Abend einmal 'Muse'... Die Stimmung stimmt." Der Urologe hatte mir zwei Versuchspackungen 'Muse' zum Testen mitgegeben: Statt dass ich das Prostaglandin mit einer Nadel in den Penis spritze, kann es als dünnes, drei Millimeter langes Stäbchen mit einem feinen Applikator in die Harnröhre eingeführt werden. Dort löst sich die Substanz auf und findet den Weg in die Schwellkörper. Das tönt viel schwieriger und gefährlicher, als es ist. Um den Übertritt aus der Harnröhre in die Schwellkörper zu fördern, soll der Penis anschließend während einiger Minuten geknetet werden.
Renata ist daran, die Kissen des Bettsofas im Wohnzimmer mit Stoff zu überziehen. Ich komme nackt, eine Windel zwischen die Schenkel geklemmt, aus dem WC gelaufen. Ich rapportiere. "Das Gefühl ist unheimlich gut, er schwillt auch viel gleichmäßiger an..."
Zu früh gefreut. Er wird zwar recht groß, bleibt aber weich und schlaff. 500 Mikrogramm sind offenbar zu wenig. Anderntags gehen wir in die Apotheke und fragen nach der doppelten Dosis.
9. September
Renata hat mich ermuntert, mich nochmals nach einer Vakuum-Erektionshilfe zu erkundigen. Die Urologische Uni-Klinik in Bern wusste Rat. Nach wenigen Tagen war die Lieferung da. Das Gerät ist sehr robust und nicht störanfällig. Die Anleitung übersichtlich, die Bedienung scheint einfach. Ich werde mit Üben anfangen, sobald ich mich innerlich vom Spritzen verabschiedet habe.
16. - 21. Oktober
Casa Lucertolina. Die Sache mit der Vakuumpumpe. Seit Mitte September übe ich. Anfänglich, ohne danach einen Spannungsring vom Zylinder auf den Penis abzustreifen. Die Erektion ist beachtlich. Sie wäre vermutlich imposant, wären die Schwellkörper noch intakt. Nach einigen Tagen startete ich mit dem schwächsten, dicksten Ring. Die Erektion hielt nur kurz. Mit dem stärkeren, beigen, spazierte ich dann etwa zehn Minuten herum. Der Penis wurde blau und kühlte sich ab, wie in der Anleitung beschrieben. Trotzdem ein gutes Gefühl, ihn groß zu sehen.
Vorgestern der erste Probe-Paarlauf. Die Liebeswut war nicht allzu groß, die Neugier überwog, wie bei jedem Test. Bald zeigte sich auch das Problem dieser Methode. Streift man den Ring von Anfang an über, heißt's aber hopp, hopp! Für eine amouröse Aufwärmrunde bleibt wenig Zeit, die Stauung sollte ja nicht länger als eine halbe Stunde dauern.
Wir wählten zur Premiere eine Vari¬ante ähnlich der TV-Unterbrecher-Werbung, das heißt: Wenn's nahezu am schönsten ist, aus dem Bett springen, im Badezimmer pumpen, mit aufgekratztem Gefühl und groß gesogenem Objekt zurück ins leicht abgekühlte Vergnügen. Nicht nur das. Es zeigte sich, dass auch mit dem mittelstraffen Ring die Stauung im Liegen bald einmal ungenügend wurde. Ich setzte mich an den Bettrand - und ohne mein Dazutun war er wieder bereit. Und irgendwie ging's.
Es war immerhin ein Anfang. Auch war man sich wieder viel nähergekommen. Mit dem Körper oder auch mit den Herzen? Nächster Versuch mit dem engs¬ten Ring, Farbe Rosa.
27. Februar
Gestern am Symposium zur Emeritierung von Professor Richard Dirnhofer, Direktor am Berner Institut für Rechtsmedizin. Im Foyer zupft mich jemand am Ärmel. Albert R. steht neben mir und zwinkert mir unter seinen markanten dunklen Augenbrauen zu. Seit einem Jahrzehnt pensioniert, vor fünf Jahren die Diagnose Prostata-CA. Ich schlucke fünfmal leer. Das Thema für unsere Pausenunterhaltung ist gegeben. Als Antwort auf meinen Lagebericht prostet Albert mir mit Orangensaft zu. "Also auch du!", konstatiert er trocken. "Wir beide sind die Realität, die Statistik ist irgendwo. Auch was die Nebenwirkungen betrifft. Lange Zeit habe ich die Windeln von einem ganzen Tag aufbewahrt und sie sogar gewogen, um die Verbesserung der Kontinenz zu verfolgen." Ostersamstag
Im Schlafzimmer öffne ich die Balkontür. Das bedeutet meist: Heute ist nichts mehr los. Aber kaum im Bett, kommen wir auf amüsantere Ideen.
"Spricht etwas dagegen?", frage ich. "Nnnnein." Ich springe auf, Balkontüre zu, ab ins Bad, pumpen, pumpen und mit einem Satz zurück ins Bett. Kaum richtig im Schuss, schlafft er ab. "Hältst du durch?", frage ich. "Kein Problem." Zurück ins Bad und wieder pumpen. Aber schon bald ist er wieder weich.
"Magst du noch?", frage ich. Reni zieht das Leintuch bis über die Nasenspitze hoch. "Wenn ich nicht erfroren bin, bis er wieder einsatzfähig ist..." Ich pumpe zum dritten Mal. Jetzt kommt es gut, auch wenn wir einander mit athletischen Einlagen behilflich sein müssen. Da mir der erlösende Abgang fehlt, masturbiere ich mit der übrig gebliebenen Steife im Bad. Selbst das ist nach radikaler Prostatektomie also noch möglich - mit einem Gummiring als Krücke.
Beim Waschen bemerke ich ein großes Hämatom an der Penisunterseite. Eine Vene hat die dreimalige Stauung, die Turnerei und meine Handarbeit offenbar nicht ausgehalten. Das Objekt zum Fürchten violett-blau, aber das Ganze schmerz- und harmlos.
Wir sind uns unendlich viel näher. Reni schläft bald ein. Ich setze mich an den Bettrand und trinke im Finstern ein kleines Bier. Kann das Leben nicht auch mit Krücken schön sein?
Anfang November
Vor wenigen Tagen bin ich aus der Urologie entlassen worden. Der künstliche Blasenschließmuskel ist implantiert, aber noch nicht aktiviert. Trotz dicken Schaumgummipolstern schmerzt die Narbe im Damm beim Sitzen. Von Zeit zu Zeit erhole ich mich auf den Knien vom Schreiben am Computer.
26. März
Ich habe immer noch Glück, in vielerlei Hinsicht. Nur ein winziger Teil meines Körpers funktioniert nicht mehr. Ich lebe noch. Bloß das Ding zwischen meinen Beinen ist tot. Wie witzelt man doch, um das demütigende Handicap von uns Männern auf den Punkt zu bringen: tote Hose. Richtig. In meiner Hose ist es seit nunmehr drei Jahren still. Aber ist das die Realität, die ganze Wahrheit?
In der Hose mag es tot sein und tot bleiben. Dafür ist anderes lebendig geblieben oder erst durch meine Behinde¬rung zum Leben erwacht.
Mit dem Krebs und mit der Impotenz habe ich Renata enorm viel zugemutet. Unsere Beziehung wurde jahrelang auf heikle Proben gestellt. Wir haben sie bestanden. Unsere Beziehung ist nicht gestorben. Sie ist lebendiger geworden, fester und tiefer.
Soll meinetwegen kommen, was noch kommen muss. Ich werde versuchen, auch das zu verstehen und zu akzeptieren. Mag es in der Hose tot sein - das Leben geht weiter.