Ute Hönscheid hat der Krankenschwester, die ihrem Sohn vor zehn Jahren den Tod brachte, längst verziehen. Ruhig und sachlich berichtet sie, dass die junge Frau damals im Dämmerlicht der Intensivstation einer Frankfurter Klinik zwei Medikamente verwechselte. Dass der Herzschlag des krebskranken Dennis nach der falschen Infusion aussetzte. Dass die Ärzte den Jungen 48 Minuten lang wiederbeleben mussten und das Kind dennoch nach Wochen im Wachkoma starb. "Die Schwester hat einen Fehler gemacht und sich bei uns entschuldigt. Ich bin ihr nicht böse", sagt die Mutter. Und kann dennoch nicht aufhören, davon zu erzählen. Es geht ihr nicht um Rache, nicht darum, für die Schmerzen, den Kummer, den Verlust ihres jüngsten Kindes einen Schuldigen zu finden. Ute Hönscheid möchte verhindern, dass jemals wieder ein Kind an einer Medikamentenverwechslung stirbt.
Und sie möchte Ärzte, Pfleger und Patienten zusammenbringen, um Therapiefehler zu vermeiden. Dafür besuchte sie im vergangenen Jahr die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, verfasste einen Bericht für Ärzte, schrieb ein Buch über ihre Erfahrungen*. "Doch gerade als mein Buch erschien, ist in Hamburg wieder ein Kind am gleichen Behandlungsfehler wie bei Dennis gestorben. Ich konnte es nicht fassen", sagt die Mutter. Genau wie ihrem Sohn hatte man auch dem Hamburger Kind versehentlich Kaliumchlorid verabreicht, das unverdünnt und bei schneller Infusion zum Herzstillstand führen kann. Die norddeutschen Kollegen hatten von ihrem Fall offenkundig nicht gehört. Würden sich die Kliniken gegenseitig über ihre Fehler informieren, könnte das viel Leid ersparen, sagt Ute Hönscheid. Bislang hapert es noch an den grundlegenden Daten. Experten können nur schätzen, wie viele Patienten jährlich in Deutschland durch einen Behandlungsfehler zu Schaden kommen. Etwa 40.000 Verdachts fälle pro Jahr, ergab eine Hochrechnung, kommen bei den Gerichten und Schlichtungsstellen, Haftpflichtversicherungen und Krankenkassen an.
Fehlervermeidung durch anonyme Meldebögen
Mindestens zwei Prozent aller Patienten in Krankenhäusern werden vermutlich Opfer eines Fehlers, so eine Auswertung internationaler Studien. "Auch wenn nur wenige Fehler für die Kranken Folgen haben, muss sich dringend etwas tun", sagt Matthias Schrappe, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Erste Schritte haben Ärzte und Pfleger bereits hinter sich. Vor zwei Jahren etwa wurde das Aktionsbündnis Patientensicherheit gegründet, und auch der Deutsche Ärztetag widmete sich dem Thema. Die Weltgesundheitsorganisation schuf eine Weltallianz für Patientensicherheit, der Europarat gab alarmiert eine Erklärung ab. Und Mediziner wie Krankenschwestern beginnen, die guten Vorsätze tatsächlich umzusetzen. Erstmals liegen nun Daten über Behandlungsfehler in deutschen Kinderkliniken vor: über Vorfälle, die passierten - oder gerade noch verhindert wurden. Dieter Hart, Leiter des Instituts für Gesundheits-und Medizinrecht der Universität Bremen, hat Daten eines Projekts ausgewertet, das vor zwei Jahren mit Unterstützung des AOK-Bundesverbands an 16 norddeutschen Kinderkliniken begann. In ihnen wurde ein Fehlermeldesystem etabliert, das nicht nur Auskunft über Versehen im Klinikalltag gibt. Ärzte und Krankenschwestern sollten vor allem Situationen melden, in denen beinahe etwas schiefgelaufen wäre.
Von Mai 2005 bis Juni 2007 gaben die Krankenhäuser 1299 Berichte ab, wobei engagierte Kliniken 210 Meldebögen ablieferten, andere dagegen nur 30. Am häufigsten kam es zu Vorfällen bei der Verabreichung von Medikamenten - wie damals bei Dennis. Da wurde etwa eine Infusion nicht ausreichend verdünnt oder dem falschen Patienten zugeordnet, eine Arznei zu hoch dosiert, eine Flasche mit einer ähnlichen vertauscht. "Mit unserem System können wir Risiken erkennen, bevor ein Patient zu Schaden kommt", sagt Medizinrechtler Hart. Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger füllten anonym Meldebögen aus, wenn sie sich zum Beispiel verrechnet, verschrieben, etwas verwechselt hatten. Die Sammlung der Berichte, so die Hoffnung, soll häufige Zwischenfälle aufdecken und verhindern helfen. Fälle, die das Leben der Patienten gefährden könnten, sagt der Kinderarzt Georg Selzer von der Klinik für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin des Klinikums Bremen-Mitte, der am Projekt teilgenommen hat.
"Ohne die Berichte hätten wir die Ursache nie so schnell gefunden"
Vor acht Jahren schon hatte er gemeinsam mit seiner Kollegin Irmgard Danne aus dem Qualitätsmanagement angeregt, heikle Situationen an seiner Klinik zu melden. Als Selzer die ersten Berichte zu sammeln begann, häuften sich plötzlich Meldungen von der Intensivstation. Der Beatmungsschlauch sei den Frühchen aus der Nase gerutscht, schrieben die Kollegen. "Für die Kleinen war das eine bedrohliche Situation. Mit ihren unreifen Lungen können sie noch nicht eigenständig atmen", erklärt Selzer. Hatte eine Krankenschwester nicht sorgfältig gearbeitet? War eine neue Kollegin nicht eingewiesen worden? Selzer ging der Sache nach und erkannte an den Handschriften auf den anonymen Meldebögen, dass mehrere Pflegerinnen die Vorfälle gemeldet hatten. Er fand schließlich den Täter: Die Krankenhausapotheke hatte neue, billigere Pflaster eingekauft. Die lösten sich in der feuchten Luft der Brutkästen von der Haut der Babys und ließen den Atemschlauch aus der Nase gleiten. Schnell wurden wieder verlässliche Klebestreifen angeschafft. "Ohne die Berichte hätten wir die Ursache nie so schnell gefunden", sagt Selzer.
Besonders bei jungen Patienten können kleine Pannen lebensgefährlich sein. So muss die Medikamentendosis dem Körpergewicht der Kinder angepasst werden. Verrechnet sich der Arzt bei der Verordnung, kann das schlimme Folgen haben. Darum kämpft Selzer für ein Computerprogramm, das die Verschreibungen kontrollieren soll. Doch auch kleine Änderungen im Alltag können Patienten wie Ärzte und Krankenschwestern vor Fehlern schützen. So wurden in einer anderen Kinderklinik früher manchmal Akten von Patienten vertauscht, weil stets zwei davon auf einem Tisch zwischen den Betten der Kranken lagen. Inzwischen gibt es für jede Akte einen eigenen Tisch. Noch immer berichten jedoch nur wenige Kliniken systematisch über gefährliche Situationen. Noch immer gibt es Krankenhäuser, die zum Beispiel Kaliumchlorid ohne besondere Kennzeichnung zwischen ähnlich aussehenden Medikamenten aufbewahren. "Ein Fehlermeldesystem sollte bundesweit Pflicht werden. Dann hätte das ein Ende", sagt Ute Hönscheid.
"Auch für mich ist es nicht leicht, darüber zu reden"
Vor allem Ärzten fällt es aber in der Regel schwer, Fehler zuzugeben. Als Georg Selzer etwa von seinen Patzern als junger Assistenzarzt erzählen soll, schweigt er kurz - berichtet dann aber mit fester Stimme, dass ihm seine Oberärzte zum Glück immer aus der Patsche halfen. "Auch für mich ist es nicht leicht, darüber zu reden." Im Projekt der norddeutschen Kinderkliniken kamen nur 27 Prozent der Berichte von Medizinern, die übrigen von Krankenschwestern und Pflegern. Und wenn Ärzte - wie vor zwei Jahren auf einem Chirurgenkongress - einmal öffentlich über ihre Fehler zu diskutieren wagen, schimpft die Boulevardpresse gleich über den "Ärztepfusch". Die Erwartungen an Mediziner sind hoch. Sie sollen immer fit sein, immer zuhören, immer die richtige Therapie wählen. Dass ihnen wie jedem anderen Menschen Fehler unterlaufen, wird gern übersehen. Von der Politik, von den Patienten. Sogar von ihnen selbst. "Manche Kollegen behaupten heute noch, ihnen würden keine Fehler unterlaufen. Das ist Quatsch. Wir machen alle Fehler, auch wenn meist niemand zu Schaden kommt", sagt Selzer.
Da nützt es auch wenig, den Ärzten mit Strafe zu drohen. Einen Bankräuber könne man so vielleicht vom nächsten Überfall abhalten, sagt Manfred Müller, Leiter der Flugsicherheit bei der Deutschen Lufthansa, der Strategien aus der Luftfahrt in die Medizin zu übertragen versucht. "Ein Arzt arbeitet jedoch nicht absichtlich fehlerhaft." Mediziner würden sich bei Strafandrohung noch mehr hüten, über heikle Situationen zu sprechen - aus Angst um die Karriere. Denn die Laufbahn der Assistenten führt durch einen engen Flaschenhals über den Oberarzt bis zur Chefposition. Die Hierarchien sind oft ausgeprägt, und gar den Chefarzt offen zu kritisieren fällt heute noch schwer. Manfred Müller kennt das Problem aus der Luftfahrt. "Vor 30 Jahren hätte es kaum ein Copilot gewagt, seinen Kapitän zu korrigieren", erinnert sich Müller. So prallten im Jahr 1977 auf einem Flughafen Teneriffas zwei Flugzeuge zusammen. Der Kapitän der einen Maschine hatte keine eindeutige Starterlaubnis vom Tower erhalten, wollte jedoch nicht länger warten. Sein Copilot widersprach ihm einmal, traute sich aber nicht, ihn ein zweites Mal vom Start abzuhalten.
Die Hälfte der Meldebögen kommen bei uns von den Ärzten"
Mit 250 Kilometern pro Stunde kollidierten sie mit dem anderen Flugzeug. Fast 600 Menschen starben. "Heute würde ein Copilot eher ein zweites Mal eingreifen", sagt Müller. Seit 20 Jahren können Piloten ihre Fehler systematisch melden, und die Position des Copiloten wurde gestärkt. Die Veränderung, berichtet Müller, habe aber viel Zeit gebraucht. In der Kieler Klinik für Kinderkardiologie sind Ärzte und Pflegekräfte schon auf dem richtigen Weg. Obwohl sie die Berichte anonym abgeben können, drücken die Kollegen dem Oberarzt Olaf Jung die Meldebögen meist direkt in die Hand und diskutieren ihre Beobachtungen ganz offen. Dass ein Beatmungsbeutel nicht richtig funktioniert hat, dass eine Antibiotika-Therapie zu spät gegeben wurde. "Die Hälfte der Meldebögen kommen bei uns von den Ärzten", sagt der Mediziner. Und alle drei Monate setzen sich Pflegekräfte und Ärzte zusammen, um gemeinsam Probleme zu lösen. Ohne Vertrauen funktioniere das System nicht, sagt Jung, der das Projekt an der Klinik zusammen mit der Pflegerin Monika Trent geleitet hat. Es hilft ihnen nicht nur, Fehlerquellen schnell auszuschalten. Es erleichtert ihnen auch, mit Patienten über Fehler zu reden. Dass sich Ärzte und auch Pfleger damit schwertun, musste Ute Hönscheid vor zehn Jahren erfahren.
In der Nacht, als die Katastrophe geschah, riss eine Krankenschwester sie aus dem Tiefschlaf und brachte sie zu ihrem Sohn auf die Intensivstation. Ohne ihr einen Grund zu nennen, ohne auf die Fragen der verstörten Mutter einzugehen. Am Bett des Kindes stand eine Pflegerin und weinte. Es sei ein Fehler passiert, es habe eine Verwechslung zweier Medikamente gegeben, erklärte ein Arzt. "Ich weiß noch, wie blass Dennis war. Und ein Finger war so merkwürdig verdreht", sagt die Mutter. Da ahnte sie bereits, dass etwas Schreckliches geschehen war. Doch niemand fragte sie, wie es ihr gehe. Sie wurde mit ihrer Angst allein gelassen. Ähnlich wie Ute Hönscheid" klagen auch andere Patienten und Angehörige über ihre Ärzte, ergab eine Erhebung der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern in Hannover. Ein Drittel der Menschen, die dort um ein Gutachten ihres Falls baten, war über die Gespräche mit ihrem Arzt unzufrieden.
"Wir mussten diese ungeheuren Behauptungen aus der Welt schaffen"
Das Mitgefühl, der Respekt, die Anerkennung ihrer Situation bedeuten vielen Patienten mehr als eine finanzielle Entschädigung. Zehn Prozent von ihnen verzichten sogar auf ihre Ansprüche, wenn sich der Verdacht eines Fehlers bestätigt hat, berichtet der Rechtsanwalt Johann Neu von der Hannoveraner Schlichtungsstelle. Diesen Respekt musste sich Ute Hönscheid allerdings vor Gericht erkämpfen. Sieben Jahre dauerte der Prozess gegen die Klinik, die den Hirnschaden des kleinen Dennis nach jener Nacht auf dessen Hirntumor zu schieben versuchte. Die Verwechslung habe keine Folgen gehabt, sagte der zuständige Professor, das Kind bereits vorher im Wachkoma gelegen. "Wir mussten diese ungeheuren Behauptungen aus der Welt schaffen", sagt Ute Hönscheid heute. Hätte sich die Klinik dagegen gleich entschuldigt, hätte sie die Folgen des Fehlers nicht zu verschleiern versucht, dann wäre sie nie vor Gericht gegangen.