Er war ein Freibeuter, ein Frauenheld, ein Säufer, ein Kämpfer für die Armen. Er hinterließ einen unermesslichen Goldschatz. Nachdem ihm bei seiner Hinrichtung der Kopf abgeschlagen worden war, lief er noch an zahlreichen seiner Kameraden vorbei, die sich Vitalienbrüder nannten, sodass ihnen die Todesstrafe erspart blieb. Seine Feinde, die Städte der Hanse, besiegten den gefürchteten Seeräuber schließlich in einer gewaltigen Seeschlacht. Im Jahr 1400 wurden er und seine Piraten-Bande in Hamburg, vor den Toren der Stadt, mit einem Schwert enthauptet. Ihre abgetrennten Köpfe nagelte man auf Pfähle, weithin sichtbar zur Abschreckung und damit die Piraten auch da blieben, wo sie nach Auffassung der ehrbaren hansischen Kaufmänner hingehörten: ins ewige Feuer der Hölle.
Faszination Störtebeker
Das erzählt die Volkssage über Klaus Störtebeker, den bekanntesten deutschen Seeräuber. Das meiste, was in einigen Romanen, Opern und Comics über ihn erzählt wurde, hat allerdings nichts mit der historischen Wahrheit zu tun. Der reale Störtebeker, der am Ende des 14. Jahrhunderts in Nord- und Ostsee Handelsschiffe überfiel, verschwindet gänzlich hinter einem Schleier aus Mythen und Unwahrheiten. Es gibt lediglich ein paar Erwähnungen in schriftlichen Quellen. Von der berühmt-berüchtigten Hinrichtung Störtebekers auf der kleinen Elbinsel Grasbrook existiert kein schriftlicher Beweis.
Der Faszination hat das seit 600 Jahren keinen Abbruch getan. Eine Stralsunder Brauerei schlachtet den Mythos mit Störtebeker-Festspielen auf Rügen und einem Störtebeker-Weizenbier gewinnbringend aus. Die ARD zeigt zu Ostern einen aufwendig produzierten internationalen Mehrteiler mit dem Schönling Ken Duken in der Hauptrolle, der wie eine Mischung aus Siegfried und Zorro daherkommt. Dass es nicht der Mythen und unsinnigen Übertreibungen bedarf, um eine hoch spannende Geschichte zu erzählen, hat jetzt der Hamburger Autor Jörgen Bracker bewiesen.
Zeelander: Der Störtebeker-Roman
Zeelander heißt sein großartiger und farbenprächtiger Roman, der im Untertitel noch den Zusatz trägt: der Störtebeker-Roman. Störtebekers dürre biografische Daten bilden den roten Faden im Geschichtspanorama. Aber neben Störtebeker lässt Bracker andere Hauptfiguren auftreten, die zum Teil ebenfalls authentisch sind. Der Autor erzählt nicht nur eine kenntnisreiche Geschichte der Piraterie, sondern gleichzeitig ein Sittengemälde der hansischen Gesellschaft. In klarer und anschaulicher Sprache schildert er uns die Geschichten der Machtkämpfe zwischen einer sittlich verrohten Kirche, den Hansestädten und den Fürsten und Landesherren. Dazwischen agieren die Kaperfahrer, die meist als Söldnertruppen für verschiedene Auftraggeber raubten und mordeten (mit den so genannten Kaperbriefen ausgestattet).
Der ehemalige Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte, der vor fünf Jahren die große Störtebeker-Ausstellung organisierte, hält sich streng an die historischen Fakten und entrümpelt den Mythos des raubeinigen Piraten. Störtebekers Äußeres: klein, zierlich und später mit leicht schütterem Haar. "So einen Hünen kannst du da an Bord gar nicht brauchen, wenn es darum geht, schnell etwas an Bord zu erledigen", sagt Bracker im Gespräch.
Spannung im Einklang mit den historischen Zeugnissen
Der Roman beginnt in Wismar, der kleinen mecklenburgischen Stadt an der Ostsee. Hier wird ein Nikolao Stortebeker im Jahr 1380 erwähnt, weil er von zwei Männern brutal zusammengeschlagen wird, die darauf aus der Stadt verwiesen werden: "Das ist eine Schlüsselquelle für mich. Dass er von zwei Leuten verprügelt und von der Stadt geschützt wird, passt natürlich nicht zu dem, was wir von Störtebeker wissen", sagt Bracker. Wo kommt Störtebeker her? Wie ist er zu einem Kaperfahrer geworden? Wie kann man eine spannende Geschichte im Einklang mit den historischen Zeugnissen erzählen?
Bracker gibt dem jungen Klaus ein Brüderpaar an die Seite, die Zeelanders. Alle drei sind sie bei Nonnen im Waisenhaus aufgewachsen. Jetzt aber trennen sich ihre Wege. Während Störtebekers weiterer Weg zunächst im Verborgenen bleibt, landen die beiden Brüder Clemens und Johannes in Hamburg. Clemens wird Pfarrer, Johannes Schiffbauer. Dieser Johannes Zeelander ist eine authentische Figur. Zur Zeit Störtebekers existierte tatsächlich ein Schiffbauer mit Namen Johannes Zeelander in Hamburg. Die Hansestadt hat ihm Geld gezahlt. Und Störtebeker? Jörgen Bracker macht ihn zum Boten, der zwischen den Hansestädten und den Kaperfahrern pendelt. Die Piraten waren meist Söldner, die auch für die Hansestädte raubten.
"Das Mittelalter war finster"
Das Spätmittelalter mit seiner ganzen düsteren Pracht tritt uns im Zeelander-Roman entgegen. "Das Mittelalter war finster. Die Menschen lebten in ständiger Angst vor Unwettern, Krankheit und Verbrechen", so Jörgen Bracker. Folter und Hinrichtungen, die Pest und die Inquisition, Raub und Mord - die Welt Störtebekers und der Hanse bieten genug Stoff. Ein Mythos ist hier gar nicht mehr nötig. Allein die Bandbreite der Tötungsarten bei Hinrichtungen, die sich beim mittelalterlichen Menschen sehr großer Beliebtheit erfreuten, ist äußerst schauerlich. Störtebeker und seine Vitalienbrüder werden enthauptet, wie bei Piraten üblich. Enthaupten gilt unter den Todesarten als die ehrenvollste. In einer schaurig-schönen Szene wird ein ehemaliger Geselle von Johannes Zeelander wegen Münzfälscherei durch das Sieden in kochendem Öl getötet - eine derartige Hinrichtung war ein Publikumsmagnet unter den Hamburgern.
Die Vitalienbrüder sind - im Roman wie wohl auch in der Realität - ein Auffangbecken für die Gestrauchelten und Außenseiter (Motto: "Gottes Freund und aller Welt Feind"). Sie stellen eine Art Gegengesellschaft dar. In der Volkssage trägt die Figur Störtebekers Züge eines Sozialrevolutionärs. Das geht aber an der historischen Realität vorbei: "Er ist kein Robin Hood, er ist kein Helfer der Armen", sagt Bracker. Trotzdem hat der Autor uns den Gefallen getan, einen echten Helden zu zeigen, einer, der solidarisch ist, wenn es um die Vitalienbrüder und um Freunde geht.
Es bleibt nicht viel vom Mythos Störtebeker
Am Ende des Romans werden die Todgeweihten von den Folterkammern der Stadt zur Hinrichtungsstätte geführt. Ehemalige Bürger der Stadt befinden sich unter den Verurteilten, sie ziehen geschunden an ihren ehemaligen Nachbarn und Geschäftsfreunden vorbei. Johannes Ammentrost, der Scharfrichter, hat alle Hände voll zu tun, er muss schließlich 30 oder 40 Männern den Kopf abschlagen. Auch in dieser Szene bleibt nicht viel vom Mythos Störtebeker übrig, schon gar nicht, dass er kopflos seine Kameraden abschreitet. Jörgen Bracker hält dennoch für den Leser eine Überraschung parat.
Aber die Köpfe hat man tatsächlich auf Pfähle genagelt. Das war so Sitte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.