Nach 600 Jahren haben Historiker, Naturwissenschaftler und die französische Künstlerin Elisabeth Daynés eine Rekonstruktion eines enthaupteten Seeräubers hergestellt. Es könnte Störtebeker sein, sagen die Forscher. Im Museum für Hamburgische Geschichte steht der Piratenkopf nun in einer Vitrine. Mit dem Störtebeker aus Filmen, Büchern und Comics hat dieses Abbild wenig gemein.
Aber allein der Name zieht. "Auf dieses Exponat sind die Kollegen in anderen Museen schon neidisch", sagt Museumsdirektorin Gisela Jaaks. Ihrer Meinung nach muss ein Museum heutzutage mehr bieten als reine wissenschaftliche Fakten. Deswegen sei es auch in Ordnung, wenn bei der Gestaltung des Freibeuterkopfes künstlerische Freiheit zum Einsatz kommt. "Natürlich befriedigen wir auch die Erwartungen des Publikums, wir wollen doch schließlich Besucher anziehen. Eine halbfertige Gestalt dahin zu stellen halte ich für fragwürdig den Besuchern gegenüber." Doch fragwürdig ist auch die Präsentation. "Legende und Fiktion überwiegen im Fall Störtebeker eindeutig die kargen Fakten", gesteht dann auch Wiechmann ein.
Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Rainer Postel bringt die Zweifel auf den Punkt: "Unsere historischen Kenntnisse über Klaus Störtebeker sind dürftig, weithin unsicher, und sie fußen auf einer schmalen Überlieferung: ein paar knappen chronikalischen Nachrichten, einzelnen urkundlichen Erwähnungen und Hinweisen in den Hamburger Kämmereirechnungen; es gibt keine zeitgenössischen Bilder, keine authentischen Relikte." Dies schreibt Postel in einem von Wiechmann herausgegeben Buch über den Mythos Störtebeker. Wiechmann ficht das nicht an. Der Museumsmann ist dennoch überzeugt, dass der ausgestellte Schädel einem bedeutenden Anführer der Vitalienbrüder gehört. Die Vitalienbrüder enterten und plünderten ab 1376 zunächst in der Ostsee und dann in der Nordsee die Koggen der Hansestädte. Aber auch Kauffahrer aus England, Skandinavien und den Niederlanden wurden ihre Opfer. Die Vitalienbrüder wurden von verschiedenen europäischen Herrschern für ihre Zwecke eingespannt. Mit allen Mitteln kämpften die Fürsten um die Vorherrschaft auf den nordeuropäischen Meeren. Die Vitalienbrüder waren ein loser Bund mit vielen Anführern. Wenige Namen haben die Zeit überdauert, Störtebeker ist der mit Abstand bekannteste.
Sonderbehandlung des Scharfrichters
Das Museum betont die Sonderbehandlung des potenziellen Störtebeker-Schädels durch den Scharfrichter. Gefangengenommene Seeräuber hatten keine Gnade zu erwarten. "Piraten musste nach dem Lübischen Recht der Kopf abgeschlagen und dieser dann auf einen Pfahl aufgenagelt werden", beschreibt Wiechmann das grausame Recht im Mittelalter. Doch bei seinem Ausstellungsstück droschen die Henkersknechte nicht einfach einen Nagel durch die Schädeldecke. Sie präparierten die Trophäe so, dass die Knochen nicht splitterten und der aufgenagelte Kopf noch lange Jahre an der Elbe ausgestellt werden konnte. Den vorbeifahrenden Handelsschiffen als Warnung und als Demonstration der Seemacht Hamburgs. Diese Sonderbehandlung sei sonst nicht angewandt worden, sagt Wiechmann. Das spräche für die besondere Stellung des Enthaupteten. Doch wieder fehlt der Beweis.
Außerdem wurden nicht nur Seeräuber enthauptet und die Köpfe aufgenagelt. Es gibt mehrere Fälle, wo Kapitalverbrecher posthum damit bestraft wurden, dass ihre Körper nicht auf dem Friedhof beerdigt, sondern kopflos verscharrt wurden. Der Schädel schmückte dann den Galgen, die Stadtmauer oder sonstige markante Punkte im Stadtleben. Wiechmann hat eine Liste mit Hinrichtungen von Seeräubern erstellt. Demnach wurden 1400, 1401 und 1433 große Massenenthauptungen auf dem Grasbrook durchgeführt. Insgesamt 88 Männer ließen dabei ihr Leben. Da Wiechmann sich bei seiner Recherche auf Quellen aus späteren Jahrhunderten stützt, ist auch nicht ausgeschlossen, dass weitere Piraten ein ähnliches Ende fanden. Wiechmann meint, dass bei "nur 88 enthaupteten Seeräubern" die Zahl der Anführer gering gewesen sei. Da Störtebeker in Hamburg hingerichtet worden sein soll, sei die Chance seinen Schädel zu haben hoch. Rein wissenschaftlich gesehen gleichen die "kargen Fakten" einem instabilen Kartenhaus. Hinterfragt man ein Detail, bricht alles zusammen.
Zweifelhafte Rekonstruktion
Auch die Rekonstruktion ist zweifelhaft. Bei der Herstellung der Plastik haben wissenschaftliche Überlegungen eine Rolle gespielt, etwa welcher Menschentyp für diese Zeit im Norden geichert ist, erzählt die Museumsleiterin Gisela Jaaks. Das könne man anhand von Beschreibungen aus jener Zeit belegen. Der Pirat bekam deswegen rotblonde Haare und blaue Augen verpasst. Bei der Teintgestaltung wurde berücksichtigt, dass der Mensch viel an der frischen Luft gewesen ist. "Der Kopf zeigt einen Mann, der nicht gerade ein gepflegtes, ständig parfümierte Leben geführt hat. Das entspricht eben einem Piratenleben", sagt Jaaks. Doch die oft betonten Fakten, die bei der Rekonstruktion eine Rolle gespielt haben sollen, betreffen nur die Kopfform. Da der Schädel keinen Unterkiefer mehr hatte, wählten die Forscher einen passenden Kiefer aus einer Sammlung aus. Über die Ohren konnten keine Angaben gemacht werden, ebenso nicht über die tatsächliche Haar- und Augenfarbe. Daynés, die auch schon einen Neandertaler und den "Ötzi" rekonstruierte, baute auf ihre Vorstellung von einem Piraten. In ihrem Pariser Atelier formte sie zunächst aus Ton ein Gesicht und stellte dann einen Silikonabguss her.
Ein fiktiver Zeitgenosse Störtebekers
Dass dieses Piratenabbild sicher nicht den echten Störtebeker zeigt, sondern höchstens einen fiktiven Zeitgenossen, stört die Museums-Crew nicht. "Am schlimmsten ist ein Museum, in dem sich nichts bewegt", sagt Wiechmann. Wichtig sei, dass die Forschung vorangebracht werde und Exponate, die schon lange im Haus sind neu erforscht und dann anders präsentiert würden. Störtebeker ist ja nur ein Teil, wir restaurieren auch gerade ein Deckengemälde", sagt Wiechmann. Doch wegen eines Deckengemäldes strömen die Leute nicht ins Museum.
Mit dem Kopf hat das Museum für Hamburgische Geschichte die Legenden und Mythen um Störtebeker mit einer neuen Anekdote angereichert. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich sein Image ständig. Zu Lebzeiten war er Krimineller. Nach seinem Tod wurde er als "Robin Hood der Meere", als edler Kämpfer gegen die Dänen und frei denkender Revolutionär verklärt. In der DDR galt er sogar als Sozialist, der mit seinen Männern in einer Kommune lebte und gegen die Kapitalisten der Frühzeit zu Felde zog. Nun ist er ein ungepflegter Seemann mit wenigen Zähnen.
Jaaks und Wiechmann finden ihr Störtebekerbild authentischer, als die Kupferstiche aus dem 18. Jahrhundert, die den legendären Piraten zeigen sollen. "Für uns ist es wichtig, das Interesse der Menschen zu wecken. Besser sie gehen mit diesem Bild aus dem Museum, als dass sie die Fälschungen vor Augen haben", sagt Jaaks. Als sie zum ersten Mal ihren Störtebeker sah, war sie zunächst überrascht. "Ich habe die Arbeit von Frau Daynés bewundert, mein Störtebeker war das aber nicht. Doch gewisse Merkmale die man mit einem Seeräuberleben um 1400 in Verbindung bringen kann, sind gut getroffen. Da kann man nur sagen: Klaus, fühl dich wohl bei uns, wenn du es denn bist."