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Neuer Roman "Panikherz" Benjamin von Stuckrad-Barre: Die Show, die sein Leben war

Vom Glanz und vom Dreck: In "Panikherz" erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre, wie ihn sein Leben als Popliterat in Drogenmissbrauch und Essstörungen trieb - und wie es ihn beinahe umbrachte.

Vielleicht ist nur die Nacht die richtige Zeit, um dieses Buch zu lesen, am besten an einem Stück. Wenn das Rauschen leiser wird, das Kommentieren, Teilen, Liken, Pöbeln, das heute noch stärker tönt als in der Zeit der sogenannten Nullerjahre, in der das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre spielt. Heute, wo schon ein kleines bisschen Anderssein und ein bisschen Dicker-Sein und die 500-Euro-Frage bei Jauch nicht wissen ausreichen, dass "das Netz" über einen herfällt. Damals musste man noch mehr dafür tun, und das machte es vielleicht noch schwerer, zu sein, wer man ist. Erst recht, wenn man jung war und bekannt werden wollte und auch ein bisschen anmaßend war und blöd und vielleicht noch auf der Suche, wie genau man sein großes Talent einsetzt. Noch schwerer aber wird es, wenn man älter wird und alles nicht mehr neu ist. Und man trotzdem weiter mitmachen will. Stuckrad-Barre war in dieser Medienwelt immer Täter und Opfer zugleich. Und genau davon handelt sein Buch "Panikherz".

Es erzählt die Geschichte eines hochbegabten jungen Mannes aus der Provinz, der Benjamin von Stuckrad-Barre heißt und mit 23 Jahren als "Pop-Literat" bekannt wird. Er schreibt erst für Stadtmagazine, Musikmagazine, er schlaubergert sich nah an die Stars, von denen er selbst einer werden will, und wenn er einen Promi zum Interview trifft, bittet er danach um ein Autogramm. Stuckrad-Barre erzählt über eine geschlossene Gesellschaft, die einem gelegentlich wie eine geschlossene Anstalt erscheint, in der jede Hand die andere mindestens zweimal wäscht. Er interviewt Friedrich Küppersbusch, kriegt dann von ihm einen Job, später produziert Küppersbusch seine Talkshow. Er arbeitet als Autor für Harald Schmidt, der wiederum später Testimonial für Stuck­rad-Barres ersten Roman "Soloalbum" ist. Er rezensiert im "Spiegel" Werke von Walter Kempowski, und der wird dann Literaturratgeber in seiner Show. So macht man das. Das kann man karrieristisch finden oder erstaunlich, aber irgendetwas an diesem Jungen müssen all diese Männer gerngehabt haben, sonst hätte es nicht funktioniert. 

Sein Platz ist am Rand, von da aus kommentiert er

Stuckrad-Barre verwandelt seine Lesungen in Auftritte und seine Person in einen Popstar, und aus der Lesereise und dem Star-Sein macht er dann wieder einen Roman. Er nennt sich selbst "Figur" in diesen Jahren, die anderen nennen ihn "Selbstdarsteller". Er talkt in Talkshows, macht bald selbst eine und dann noch eine und wird zu einer öffentlichen Person. Sein Platz ist am Rand, von da aus kommentiert er, was andere machen; und die anderen machen es ziemlich oft falsch, zu langweilig, zu bemüht, zu unironisch, und dann tragen sie noch die falschen Klamotten. Er schreibt über Künstler, Journalisten, Politiker, seziert mit großem Frohsinn, großer Könnerschaft und großer Herablassung deren Inszenierung und ist selbst genau das: eine Inszenierung. Aber die Stellen treffen kann natürlich nur einer, der weiß, wo es wehtut.

In "Panikherz" erzählt Stuckrad-Barre aus dem Backstage-Bereich dieser Show, die sein Leben war. Von dem Glanz und dem Dreck, von der Lust und den Schmerzen dieser Jahre und wie er sie erst gesteigert und dann betäubt hat, mit Musik, dann mit Alkohol, mit Drogen, bis es nicht mehr ging. Und er seziert wieder, diesmal sich selbst.

Panikherz

Benjamin von Stuckrad-Barre, geboren 1975 als viertes Kind einer Pastorenfamilie, wurde 1998 in Deutschland mit seinem Buch "Soloalbum" als "Pop-Literat" bekannt. Nach langer Pause erzählt er in "Panikherz" von seiner Sucht nach Applaus und Drogen, von seiner Essstörung, seinen Helden und von wahren Freunden.

Kiepenheuer & Witsch, 22,99 Euro

Wütend erzählt er, wie ihm sein Leben entgleitet. Beschreibt die Magersucht, die zur Bulimie wird, die Stunden über der Kloschüssel und dass er die Musik immer laut machen musste, damit keiner was mitkriegt, immer das gleiche Lied. Er schreibt von Hunger und Fressattacken, wie man Eis in sich hineinschlingt und es wieder auskotzt, und es ist immer noch kalt! Er schreibt, warum er seine Fressattacken mit roten Gummibärchen beginnt – weil man die retour so gut sieht und dann beim Kotzen weiß, aha, jetzt ist Schluss, danach kommt nichts mehr, nur noch Galle. Dass Leute ihn Kotzbrocken nannten in dieser Zeit, ist so gesehen schon fast wieder lustig.

Die Bulimie versucht er mit Kokain in den Griff zu bekommen, das funktioniert eine Weile, ist aber keine Lösung. Seine Wohnung und er selbst verwahrlosen, und er erzählt, wie er mit der einen Stehlampe, die er hat, von Zimmer zu Zimmer zieht, um seine Arbeit am Laufen zu halten, oder das, was er dafür hält. Wie er, ehrlich, unsympathisch, brillant, noch mit verklumpten Blutbröckchen in der Nase, im Wettbewerb mit den Amateur-Koksern steht. 

"Panikherz" hat das Redselige des Drogenwahns beibehalten, es ist zu lang, und immer noch fliegt alles gern durcheinander, Jahre, Orte, Leute, Zitate, egal. Es kreist um sich selbst, dass einem schwindelig wird wie in einem Karussell: Man weiß einfach nicht, dieses Flaue im Bauch, ist das jetzt noch Glücksgefühl oder schon Übelkeit.

"Ich war unzurechnungsfähig"

Vielleicht also wirklich ein Buch für die Nacht. Wenn das Träumen beginnt. Davon, wer wir mal waren und wer wir mal sein wollten und wer wir dann geworden sind. Für Stuckrad-Barre war es sein Traum,der Wirklichkeit wurde und dann ein Albtraum. An einem seiner Tiefpunkte ruft er die Dokumentaristin Herlinde Koelbl an und lässt sich über Wochen dabei filmen, wie er in seiner heruntergekommenen Wohnung und in diversen Kliniken versucht, seinen körperlichen und seelischen Verfall aufzuhalten.

"Das war eine Extremdummheit", sagt er heute, "ich war drogenabhängig und unzurechnungsfähig, und in diesem Zustand sollte man verschiedene Dinge einfach nicht tun: zum Beispiel Zugmaschinen lenken oder auch Dokumentarfilmemacher anrufen, ob sie nicht mal vorbeikommen wollen."

Wir sitzen jetzt doch nicht im Raucherraum des Hotel Atlantic in Hamburg, wo eigentlich Interview und Fotos gemacht werden sollten, weil Stuckrad-Barre im Moment da wohnt, gleich neben Udo Lindenberg, der vom Helden seiner Jugend zu seinem Freund wurde und ihm in den finstersten Stunden kein Liedchen vorsang, sondern nüchtern blieb und ihn zum Arzt schaffte. Als man im Atlantic hörte, dass es um diesen "Absturzroman" geht, wurden wir höflich wieder ausgeladen.

Ist "Panikherz" überhaupt ein Roman? So etwas wie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" der Nullerjahre? Schwer zu sagen, aber vielleicht auch unwichtig. "Panikherz" ist die Geschichte einer Zeit voller Musik, voller Bücher, voller Zitate und Selbstzitate, in der junge Leute "irgendwas mit Medien" machen wollten und das noch kein Witz war. Und Leute wie Küppersbusch und Schmidt die großen Helden eines Deutschlands waren, das mangels echter Sorgen ironisch wurde.

"Panikherz" ist kein Bekenntnisbuch eines Gestürzten. Es geht nicht um Fakten, sondern um Gefühle, um eines vor allem, das stärkste neben der Liebe: die Angst. Stuckrad-Barres Angst in einer Welt, in der oft nur wirklich scheint, was in den Medien vorkommt, diese Angst von einem, der darin verloren gegangen ist und verloren hat, aber nicht nur. Das Ende seiner Sucht nennt er sein "Comeback als Mensch".

Es geht ihm ganz gut. Er nimmt keine Drogen, er trinkt keinen Alkohol, er macht Sport. Er ist Vater geworden, für seinen kleinen Sohn sind Nutzfahrzeuge, Bagger, Laster, Müllautos, derzeit ein großes Thema und deswegen auch für ihn.
Er hält ihn für hochbegabt, wie fast alle Eltern ihre Kinder. Vielleicht sind das so Momente, früh am Samstagmorgen in der leeren Stadt mit einem Kind, das nicht mehr schlafen will, vor einem Müllauto, in denen er denkt: Möglicherweise ist das auch Unsinn, dass Leben und Schreiben so eng miteinander verwoben sind, dass er das eine vom anderen eigentlich nicht mehr unterscheiden wollte. "Sie schreiben ja immer nur über sich", hat ihm ein Kritiker schon vor vielen Jahren vorgeworfen, und er soll geantwortet haben: "Ja, worüber denn bitte schön sonst?" Sein Sohn jedenfalls kommt im Buch nicht vor.

Er liest nicht mehr alles, was über ihn geschrieben wird, er will es zumindest versuchen. Es ist auch weniger geworden, deutlich weniger. Die Frage, warum einer solche Angst hat, der das nicht haben müsste, der so viel Talent hat und so viel Erfolg und dessen Sprache so viel Kraft besitzt, ist nicht zu beantworten. Es ist die gleiche Frage wie die, warum einer Panik bekommt in Tiefgaragen, wo tausend andere diese Gänge mühelos bewältigen und immer den Ausgang finden. Da ist doch nichts, wovor man sich fürchten müsste. Oder doch? Es soll ja viele geben, Maler, Musiker, Manager, die sehr unglücklich sind oder sehr ängstlich oder sehr krank und trotzdem oder deswegen Außergewöhnliches leisten.

Das Licht soll wieder angehen

Frauen kommen übrigens nicht vor. In "Panikherz" gibt es keine Frauen, die Bedeutung haben, außer als Mädchen, die anstehen, um ihn lesen zu hören, oder als Nutten. 

Die Nacht ist wieder gut zu ihm. Jetzt vielleicht mehr zum Lesen und Musikhören, nicht mehr zum Koksen, nicht mehr zum Kotzen. Stuckrad-Barre ist immer noch dürr und hat immer noch Angst, zu dick zu sein, und bestellt Omelett aus Eiern ohne Eigelb – aber ist das nicht irgendwie auch seine Sache? 

Kurz vor Ende des Gesprächs kommt die Nachricht, dass Volker Beck mit Drogen erwischt wurde, ausgerechnet Beck. Vollblutpolitiker und Vordenker der Bundes-Grünen, heißt es, so brillant, so fleißig, so klug. Es trifft wohl öfter die Begabtesten, wobei Drogen natürlich immer auch eine Entscheidung sind und kein Blitzschlag.

Die Suche nach Anerkennung hört ja nie auf. Manchen reicht die kleine Dosis: Freunde haben, Arbeitskollegen, die einen ganz okay finden, oder Klubmeister sein im Tennisverein. Manche wollen nur die ganz große Dosis, die große Liebe heißt; Kinder, die einen bedingungslos lieben, oder ein Waisenhaus in Haiti gründen. Stuckrad-Barre will wieder auf die Bühne, wieder gesehen, wieder gehört werden, das Licht soll wieder angehen. 

Geht es bald. Eine Lesereise, Auftritte, Fernsehinterviews, Fotoshootings, Berlin, München, Jena, Oldenburg, mehr als 20 Städte, alle großen Sender, er geht sogar auf ein Kreuzfahrtschiff, um sein Buch vorzustellen. Laaangsam, denkt man, mach langsam, Panikherz, und wenn du klopfst, dann bitte nur für dich.

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