"Die Hinrichtung steht kurz bevor – gleich nach der Werbung!"
Kurzzeitig war man als Zuschauer irritiert, ob man sich gerade auf einen saudischen TV-Sender verirrt hatte, aber nein: Mit diesen Worten hielt Thommy Gottschalk als Host der großen RTL-Passionsspiele die Zuschauer bei der Stange, bzw. beim Holzkreuz.
Eigentlich ein unnötiges Kobern, denn wer bis hierhin dran geblieben ist, würde gewiss nicht mehr umschalten. Ob Hornbach im Werbeblock vom großen Promi-Nageln als Sponsor präsentiert wurde, ist nicht weiter überliefert. Sicher aber ist: Es war fantastisch. Einfach fantastisch.
Mit coronabedingter Verzögerung konnte der Kölner Sender endlich seine Version des Leidensweges Jesu Christi inszenieren. Live (zumindest Teile davon) in der Essener City (stand fast genau so in der Bibel). Ich weiß, was sie jetzt denken: "Wenn ich eine Kreuzigung im Fernsehen schauen will, dann gucke ich mir nochmal Anne Spiegels PK an."
Es war das einende Event, das wir gebraucht haben. Den frisch entlockten Thommy Gottschalk, der immer mehr aussieht wie ein Supervillain bei Marvel, kann schon lange nix mehr schocken. Und als alter Weggefährte des großen Theologen Hans Küng kann er natürlich nachts um drei in Schlappen die Passionsgeschichte frei nacherzählen, bis hin zu den letzten drei Auswechselspielern im Apostelkader.
Schwieriger wurde es dann schon bei der Besetzung dieses Live-Musical-Events, weshalb er bereits nach der Nennung von "Jesus" Alexander Klaws verstärkt auf den Teleprompter da unter seiner Kamera schielen musste.
"Die Passion" mit deutschen Popklassikern
Es wurde alles aufgefahren, was im RTL-Kosmos nicht bei drei auf Llambis Diskokugel war: Laith Al-Deen als Petrus, Ella Endlich als Jungfrau Maria, Mark Keller als Judas, um nur ein paar zu nennen. Alle chargierten sich förmlich wund, intonierten zeitgenössische deutsche Popklassiker wie Silbermonds "Symphonie", "Wie schön Du bist" oder "Du erinnerst mich an Liebe", während sie durch die Essener City passionierten.
Was mitunter zu Szenen führte, wie Jesus mit seinem Gefolge (Petrus Al-Deen, Stefan Mross und Apostelette Anna-Carina Woitschak) fröhlich singend im Bus Richtung Stadtmitte "Ein Hoch auf uns" intonierte. Ein geträllertes Hochgefühl, das man im ÖPNV im Ruhrgebiet während der Stoßzeiten eher selten erlebt.
Dazwischen, als eine Art Field-Reporterin, Annett Möller, die immer wieder zugeschaltet wurde, um Stimmen des Volkes einzufangen, das sich im Kollektiv anschickte, das 250 Kilo schwere LED-Kreuz die 3 Kilometer von der Rüttenscheider Straße zum Burgplatz zu schleppen. So erfuhr man allerlei Dramen und Erweckungserlebnisse von Bürgerinnen und Bürgern, als ginge es gerade darum, vor Bohlen in den Recall zu kommen.
Letztes Abendmahl beim lokalen Edelitaliener
Das war zumeist harmlos, ein bisschen AstroTVesque und mitunter richtig unangenehm, wenn man - vermutlich im Überschwang der Emotion - versuchte, auch noch Themen wie die Ukraine mal eben mit in den Laib Christi hineinzubacken.
"Thomas, wir verlassen jetzt die Rüttenscheider Schlemmermeile." Sowas steht in keiner Bibel. Der tapfere Thomas indes leitete, auf einer Art illuminierten Riesenphallus stehend, tapfer durch die weiteren Programmpunkte: Einkaufszentrum Limbecker Platz statt See Genezareth.
Letztes Abendmahl beim lokalen Edelitaliener zwischen Balsamicocreme und Aperol Spritz. Judas, der seinen Freund Jesus an die Polizeistreife verrät, während die Beamten die biblische Snitch fragen, ob sein Freund Jesus wohl auch auch zufällig Wasser in taktisches Bier verwandeln kann.
Die deutsche "Cats"-Verfilmung
Und immer wieder Sologesänge von Ella Endlich, die als Jungfrau Maria bemerkenswert viele Auftritte hatte. Aber im Jahr 2022 muss man selbst die berühmteste Geschichte der Welt ein wenig dehnen, damit das Ganze nicht zu einer reinen Männergeschichte zu werden droht.
Durch die Fokussierung auf die Mutter-Sohn-Geschichte bekommt das Ganze einen leichten "Ödipussy"-Hautgout, aber hier ist der Abend sowieso schon die deutsche "Cats"-Verfilmung.
Alexander Klaws als Jesus in der Fußgängerzone: RTL erzählt moderne Passionsgeschichte

Die Prozession zieht mit dem illuminierten Kreuz an der Konditorei Kötter vorbei. Tapfer spielt auf dem Burgplatz die komplett in Weiß gekleidete Passionskapelle, Stadtfestflair zwischen DSDS-Dekor, mittlerweile ist die Sonne über Essen untergegangen, und Dunkelheit bekommt der Stadt sehr gut. Es werden weitere deutsche Hits geschmettert.
"Hinterm Horizont" ist die beste Adaption eines Udo Lindenberg-Hits, seitdem Clemens Tönnies auf der Betriebsfeier mit "Ich mach mein Ding" über sein Verhältnis zu den westfälischen Gesundheitsämtern gesungen hat. Alle machen mit: Prince Damien, Samuel Koch, ja, sogar Gil Ofarim durfte dabeisein, und wenn Jesus wirklich Wunder vollbringen kann, dann hat er ihm gestern in Essen noch ein Hotelzimmer besorgt.
Henning Baum als Pontius Pilatus
Cameos von Reiner Calmund, Nelson Müller und Martin Semmelrogge als Terrorist Barrabas, der bekanntlich König Herodes damals die Sonnenliegen aus dem Schlossgarten geklaut hatte. Showdown zwischen Jesus, Petrus und Judas an der Zeche Zollverein. Heilandübergabe an die alttestamentliche Polente. Mark Keller im Gefolge der SOKO Erlöser ist schon wieder im Full Blown Cobra-11-Modus und haucht sich durch die Zeilen.
Er ist durch die ganze Show hinweg so dermaßen intense, dass man annehmen muss, der heilige Geist himself habe ihn durch bloße Berührung bedeutungsschwanger gemacht. Vorbei an Orsay und Pimkie erreicht die Prozession langsam den Burgplatz.
Es kommt zum Äußersten: Pontius Pilatus Henning Baum, der zu Beginn der Show unter Szenenapplaus noch skeptisch im C&A-Anzug aus dem Fenster einer für Essen nicht ganz untypischen 60er-Jahre Bausünde auf den vollbesetzten Patz herab blickte wie Christian Lindner auf Zapfsäulen an der Wilhelmstraße, darf jetzt auf der großen Bühne Unrecht sprechen und Jesus Klaws zum Tode verurteilen.
Für Gewalt gibt es schon das "Sommerhaus der Stars"
Mit der Bibel in der Hand ist er jetzt performativ zwischen den beiden großen Jürgens, Höller und Fliege angekommen. Baum, Sternzeichen Eisbär schleicht furchteinflößend um Jesus Klaws herum wie zuletzt nur Bohlen Anfang der 2000er bei den Mottoshows.
Judas Keller singt auf einem Gerüst "durch den Monsun". Gekreuzigt wird niemand, ja, nicht einmal ausgepeitscht. Der Sender verzichtet auf drastische Szenen oder Gewalt. Dafür gibt es ja auch das "Sommerhaus der Stars".
Beim traditionellen Hochamt der christlichen Cancel Culture werden sogar Songs von Xavier Naidoo gespielt – wenn das mal nicht gelebte Vergebung ist! Thommy Gottschalk ist hier schon gedanklich längst in der Hotelbar vom Motel One und bringt auf Autopilot den ganzen Käs' zuende. Er hatte Heidis Topmodel-Finale erlebt und "Gottschalk live" - was ist da schon eine Kreuzigung bei RTL.
Eigentlich fehlten nur Ralf Möller und Harald Glööckler
Ob ihm eigentlich klar ist, dass er zuletzt immer zur richtigen Zeit, am richtigen Ort war, wenn es darum ging, uns mit der Moderation gehobenen Blödsinns zumindest kurzzeitig vom Kreuz der zentnerschweren Last der Nachrichtenlage zu holen.
Der Fabuliertitan stillt unseren Hunger nach Ausgelassenheit, diese tiefe Sehnsucht nach großem Blödsinn. Er ist immer da, wenn wir uns um etwas versammeln wollen. Lagerfeuer, Scheiterhaufen, brennender Busch. Immer, wenn wir uns die Hände an etwas wärmen wollen.
Und weiß Gott, war das eine tolle Show. Eigentlich fehlten nur Ralf Möller und Harald Glööckler. "Die Passiöön". Aber vielleicht nächstes Jahr.
Kompliment an RTL dafür, sich das getraut zu haben. Wirklich. Es war genau das, was wir gerade alle gebraucht haben. Und ja: Ich hoffe inständig, Josef Ratzinger und Co. mussten jede einzelne Sekunde davon schauen.