M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Der Arglose - wo wäre Roger Willemsen heute?

Roger Willemsen
Vor fünf Jahren starb der Moderator und Publizist Roger Willemsen.
© Jens Kalaene / DPA
Vor fünf Jahren starb der große Roger Willemsen. In seiner Kolumne fragt sich Micky Beisenherz, was der Publizist wohl sagen würde zu dem Gesinnungsgetöse und dem Befindlichkeitsgewölle zwischen Clubhouse und dummen Fernsehdiskussionsrunden.

"Viele, die sich auf den Weg der Selbstfindung machen, sind ängstlich, sie könnten ankommen."

Jemanden, der so auf sich und seine Mitmenschen blickt, muss man doch einfach lieben. Am gestrigen Sonntag vor genau fünf Jahren verstarb Roger Willemsen. "Viel zu früh", als gäbe es ein Verfallsdatum, ab dem es okay wäre, dass jemand aus dem Leben tritt. Andererseits: Wenn man betrachtet, wie manche sich im letzten Achtel ihrer Weltwahrnehmung verändert haben, wäre die Gnade des frühen Abtritts vielleicht... aber lassen wir das.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

"Weltstars funktionieren als Bilder, als Menschen floppen sie meist."

Wer wollte da widersprechen. Roger Willemsen musste den Vergleich mit Roger Willemsen nie scheuen. Alle, denen er die Freude seiner Gegenwart gemacht hatte, schwärmen noch heute weniger von seiner Eloquenz als seiner Zugewandtheit, dem Witz und der Neugierde. Eine Geistesgröße, die sich dennoch nie in der Pose des Intellektuellen verheddert hat und stattdessen immer auch immer wieder lustvoll in die Niederungen anspruchslosen Blödsinns warf.

"Manche Prominente merken erst, dass sie eine Meinung haben, wenn sie gedruckt wird."

Er musste nicht fürchten, dass ein Waten durch noch so schlichte Popkultur wie Staub auf dem Anzug haften bleiben würde. Einer drohenden mentalen Beschädigung durch zu langes Verweilen im Bundestag trotzte er ebenfalls lustvoll.

Bräuchten wir Roger Willemsen heute nicht mehr denn je?

Wäre dieser Mann schon heute, gerade einmal fünf Jahre nach seinem Tode aus der Zeit gefallen? Oder bräuchten wir ihn nicht heute mehr denn je? Mit seinem analytisch klaren Blick auf die Gesellschaft, präzise und doch zugeneigt, fast liebevoll. Ein Spötter gelegentlich, niemals ein Spalter. Nicht korrumpierbar durch die billigen Tricks der Aufmerksamkeitsökonomie.

Jemand, der die Banalität des eigenen Tuns und das Scheitern so bewusst ausgestellt hatte, konnte stets darauf hoffen, überall Gehör zu finden. Eine Wohltat in Zeiten, da Tugendhaftigkeit zur Leistungsschau zu verkommen scheint.

"Ich erzähle mein Leben als eine Kette von Pleiten, weil ich glaube, das humanisiert eher als die Einsamkeit der Triumphe, an die wir uns kaum erinnern können."

So jemandem schüttet man doch gerne sein Herz aus. Nun hatte der Mann aber nicht nur ebendieses, sondern einen Verstand so scharf wie ein Hattori-Hanzō-Schwert. Das mussten Menschen wie Helmut Markwort oder Konsul Weyer oder selbst die Kanzlerin erfahren, die von ihm das Attest ausgestellt bekam "Sie chloroformiert das Land, indem sie unablässig jene Felder benennt, für die es keine Erregung gibt."

Emotion hat das Argument abgelöst

An Erregung mangelt es fünf Jahre nach seinem Tod wahrlich nicht. Was er wohl denken würde über eine Ära, in der die Emotion das Argument abgelöst hat und die Auffassung die Sachkunde. Jemand wie er, der es mit seiner Therapeutentimbre nie nötig hatte zu brüllen – da, wo Lautstärke die Wahrnehmungswährung ist, wäre er noch eine relevante Stimme?

Würde er noch herausragen können, wo in dem Gesinnungsgetöse und dem Befindlichkeitsgewölle zwischen Clubhouse und dummen Fernsehdiskussionsrunden wahnsinnig viel gemeint und noch viel weniger gewusst wird? (Als aktiver Teil ausgestellter Dummheit weiß ich, wovon ich rede.)

Was würde Roger Willemsen denken über so wichtige Themen wie Klimawandel, Diversität, den Raumgewinn rechter Parteien? Was hätte er wohl zu Trump gesagt. Herrgott, er hat diese gesamte moralisch-politkulturelle Nullrunde nach 2016 einfach nicht mehr mitbekommen! Eine Gunst, möchte man meinen.

Würde er twittern? Fände er sich in der hypernervösen Studentenkneipe Twitter zurecht - oder näme er sich die Zeit, Gedanken über das Wegsniffen von 240 Zeichen hinaus lang und mit der nötigen Diskurstiefe zu formulieren?

Ein Volk von digitalen Fensterrentnern

"Die Intellektuellen begreifen, dass ihre wahre Heimat die innere Emigration ist."

Wie würde er die Leute sehen, die Sachsens Michael Kretschmer beim Schneeschaufeln belästigen oder "ein bisschen SARS muss sein" singend geistig querfeldein laufen.

"Demokratie heißt: Jeder kann seine Überzeugungen haben, die Fakten werden schon mit ihnen fertig."

Im Februar 2021 sind wir zu einem Volk von digitalen Fensterrentnern verkommen. Der eingerastete Zeigefinger und der Mittelfinger in Wechselschicht. Wo wäre der so freundlich bedächtige Roger Willemsen heute einzuordnen?

"Richtig Mensch ist offenbar erst, wer auch richtig Schwein ist."

Es scheint, als wäre es ihm auch so gelungen. Egal, wie die Welt sich gerade entwickelt haben mag: Er fehlt.

Und vielleicht seine größte Gabe: Wohlwollen.

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