M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier In der Saatgut-Favela

Von Micky Beisenherz
In der Saatgut-Favela
© Illustration Dieter Braun
Den modernen Städter zieht es in den ­Kleingarten. Hier kann er Landleben spielen, ohne das Handynetz zu verlieren. Nachmachen?

Vor ein paar Tagen wurde mir klar: Es ist ernst. Wenn dir schon dein Maskenbildner erklärt – dieser Berufsstand ist im Allgemeinen nicht für schwere körperliche Tätigkeiten bekannt –, dass er am Wochenende wieder in seinen Kleingarten fährt, um dort zu jäten und zu pflanzen, wird dir klar: Das ist wohl das neue Ding.

Immer mehr Deutsche gärtnern klein. Die eigene fruchtbare Parzelle als grünes Sehnsuchtseiland in einem Ozean aus Beton. Als jemand, der vor Ewigkeiten in die Stadt gezogen ist, erinnere ich mich gern an die Magie eines Gartens. Der meines Elternhauses ist sehr ausladend. Circa so groß wie ein Vierundsechzigstel des Saarlandes, ein Tennisplatz, ein halbes Fußballfeld – und als solcher wurde er von meinem Bruder und mir dereinst auch genutzt. Sehr zum Leid meiner Mutter, die mit ansehen musste, wie verunglückte Schüsse die Hortensien köpften. Der ewige Kampf der Natur gegen den Menschen: Flanken gegen Pflanzen.

Schon Opa pflanzte fleißig Gemüse an 

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Bäume bildeten für die heimische Grünanlage nicht nur den Rahmen, sondern trugen auch allerhand: Äpfel, Birnen, Süß- und Sauerkirschen, oft auch uns Kinder. Mit ein bisschen Glück hätten wir von da oben in die Hochspannungsleitung greifen können.

Zwischen all dem: das Treibhaus meines Großvaters. Darin pflanzte der Mann so ziemlich alles an, was eigentlich in der Salatschüssel enden sollte: Kohl, Schnittlauch, Kopfsalat, Tomaten. Selbstredend fraßen wir Oppa sämtliches Gemüse weg, bevor es auch nur ansatzweise reif war. Wie ein Sisyphus der Kleingärtnerei pflanzte er tapfer dagegen an.

Ich werde nie das Aroma in diesem Raum vergessen. Eine Mischung aus Wärme, hoher Luftfeuchtigkeit und massivem Gedeihen. Eine olfaktorische Melange, die mir erst 30 Jahre später im australischen Dschungel wieder begegnen sollte.

Ob ich das so hinbekäme? Mir für 300 Euro einen Platz in einem Kleingarten anschaffen, mir das Grünanlägchen gedeihlich herrichten und die zugehörige Hütte schick machen? Und wäre es übertrieben, Designermöbel und eine Hausbar da reinzuknallen? Machen viele und sind sehr glücklich damit.

Hippe Großstädter statt Jogginghose 

Für mich als nativen Ruhrgebietler bedeutet Kleingarten eher Joggingbuchse, Bierpulle und Schalke-Fahne. Überhaupt geht die Mär, dass Menschen, die aus dem Ausland kommen und deren Blick während der Zugfahrt vom Flug­hafen zum Zielort aus dem Fenster auf diese Gartenparzellen fällt, annehmen, dass das wohl die deutschen Slums seien. Mit dem Blick des coolen Stylers aus der Avocado-Blase habe ich selbst lange so verächtlich auf die Saatgut-Favelas geblickt, muss aber zugeben: Mittlerweile hat sich der Schrebergarten zum Handtaschen-Sanssouci für hippe Großstädter gewandelt, die eigentlich aufs Land ziehen wollten, dann aber festgestellt haben, dass es in der Provinz weder S-Bahn noch Hafermilch-Cafés mit WLAN gibt.

Klingt entsetzlich? Lässt sich noch toppen. Da jeder Trend einen Gegentrend provoziert, setzt die andere Hälfte der Grundbesitzer aktuell darauf, ihren Vorgarten komplett zu versteinern. Mehr und mehr Neubaugebiete in Deutschland sehen aus, als würden die Klinkerbauten hinter Geröllhalden versteckt. Skultpuren aus Stein. Gewächse aus Kiesel. Ein Traum in Grau.

Dann lieber Teilzeit-Naturbursche sein und sich zwischen Samstagfrüh und „Tatort“ wie ein Holzfäller aus dem Modekatalog fühlen. Um pflanztechnisch nicht komplett zu versagen, weiß ich ja, wen ich fragen muss – nicht wahr, Frau Winnemuth?

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