Es ist nachvollziehbar, dass viele Menschen gerade am konzentrierten Wegschauen interessiert sind. Zu erdrückend die Nachrichtenlage, der Preis für das Kilo Bananen im Supermarkt, und dann noch der grau-suppige November. So flüchten wir uns auf die Seite, wo das Gras tatsächlich grüner ist: aufs Fußballfeld.
Die Netflix-Dokumentation über David Beckham fängt herrlich an. Da nimmt sich dieser 21-Jährige von Manchester United in der eigenen Hälfte den Ball und drischt ihn aus 50 Metern über den Torwart vom FC Wimbledon ins Netz. Spektakel, Jubel – der Ton ist gesetzt. Und ich bin wieder im Jahr 1996, dem Punkt, an dem meine Leidenschaft für Fußball erst so richtig ausbrach.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Da war lange nicht viel. Klar, früher habe ich in den Panini-Alben meines Bruders geblättert. Diese Herren, die vermutlich alle erst 25 waren, aber mit ihren Schnäuzern und Frisuren aussahen wie Kripobeamte mit 30 Jahren Diensterfahrung. Und alle hießen Uwe. Bis auf Cha Bum-kun. Aber ein Fußballjunge war ich nie. Das mag auch an den Fußballtrainern der Achtziger gelegen haben, die mit Siebenjährigen nichts Schlaueres anzufangen wussten, als sie zwanzig Runden laufen zu lassen.
Die Lust am Ballsport kam mit 17 zurück. Und explodierte mit 19. In Deutschland begeisterte das magische Dreieck vom VfB Stuttgart, der komplett wahnsinnige Daum ließ Leverkusener über Scherben laufen, und der Verein meiner Dortmunder Schulfreunde wurde auch meiner.
In England indes war es Manchester United, angeführt vom genial-geisteskranken Franzosen Éric Cantona, der mit seinem raspelkurzen Haar und dem hochgeklappten Shirtkragen fortan meinen Look bestimmen sollte und der für den frühen David Beckham Idol und Leitwolf war.
Netflix-Doku "Beckham" zeigt Aufstieg des schüchternen Jungen zum Popstar
Die Serie macht Spaß: Wir erleben den Aufstieg des schüchternen Jungen zum Popstar, den tiefen Fall nach der roten Karte im WM-Spiel gegen Argentinien 1998. Was für irre Jahre da gezeigt werden. London, die Spice Girls, Posh & Becks. Diese sagenhaft geist- und sorgenlosen späten Neunziger. Mein Cousin Tömmes und ich fuhren regelmäßig mit dem Bus nach London, um uns Daunenjacken und tief sitzende Hip-Hop-Jeans zu kaufen. Bei HMV ließ ich ein Heidengeld für VHS-Kassetten mit den besten Szenen von Manchester United. Nachgespielt oder zumindest versucht haben wir die Tore und Dribblings auf dem Rasenplatz der JVA in Ickern, ein paar Minuten von zu Hause entfernt. Wir sind regelmäßig unter und über die Zäune, um auf "den Knacki" zu kommen. Womit wir die Einzigen wären, die jemals in den Knast eingebrochen sind.
All das kommt zurück beim Schauen dieser Doku: Die Frisuren, Zornbeutel Sir Alex tritt einen Schuh nach Beckham, dessen Freistoßtor gegen Griechenland, der Wechsel zu den Galaktischen in Madrid. Der leidenschaftliche Fußballer schält sich aus dem Popstar und, oh Gott, ja: Ich mag plötzlich Victoria Beckham!
Und muss man einen nicht knuddeln wollen, der nicht nur liebevoller Vater ist, sondern seinen eigenen Honig macht, den er DBee'z Sticky Stuff nennt? Und da Beckham diese Doku auch selbst produziert hat, wird generös unter den Tisch fallen gelassen, dass der knuddelige Hobbyimker geschätzte 180 Millionen als Botschafter von Katar bekommen hat, jenem Staat, der die Terrororganisation Hamas finanziert. Da ist sie wieder, die finstere Realität.
Bleibt mir noch "der Knacki" hinter der JVA. Da spielen wir nach fast 30 Jahren immer noch. Mittlerweile haben wir einen Schlüssel dafür. Manchmal wird es auch in der Realität besser.