M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Im Osten nichts Neues

  • von Micky Beisenherz
Micky Beisenherz schreibt über den Krieg in der Ukraine
Gräber auf einem Friedhof in der ostukrainischen Stadt Bachmut. Am 24. Februar ist es ein Jahr her, seit Russland seinen Angriffskrieg begann.
© Libkos/AP / DPA
Nach Corona und einem Jahr Krieg fühlt sich unser Kolumnist so wie wir alle: wütend und müde. Zeit für ein paar ehrliche Worte.

Da sitzen wir vier also in der Küche meines Freundes Alexander in München. Das Bier, der Wein und das sehr gute Essen fühlen sich an wie eine Henkersmahlzeit. Gerade eben hat Putin seine Truppen losgeschickt. Ist das hier tatsächlich das letzte Mal, dass wir hier so zusammen sitzen würden? Das war nicht mehr nur so ein Russen-Ukrainer-Ding wie das auf der Krim, nein, diese Ignoranz ist vorbei: "Jetzt ist Krieg in Europa."

Annalena Baerbock stellt fest, dass wir "heute in einer anderen Welt aufgewacht" seien. Was zwar gut klingt, aber eigentlich totaler Unsinn ist. Klar, wir sind aufgewacht. Die Welt allerdings war vorher schon so.

Das ist ja gerade das Problem. Dass wir diesen geltungssüchtigen Braunbär-Jockey mit dem Freikörperfetisch zwar nicht unbedingt als Nachbarn hätten haben wollen, aber um ehrlich zu sein: Die Proteste gegen eine WM in Russland nahmen sich 2018 doch vergleichsweise bescheiden aus. Klar, Tiergarten, Nawalny und Krim. Aber wir hatten genug eigene Probleme: Wir hatten Gauland, Feinstaub und immer wieder ein schlechter "Tatort".

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Der oft wahnsinnige, aber dann eben doch auch immer wieder genialische Bierbuden-Hegel Franz-Josef Wagner schreibt: "Wir Deutschen waren verwöhnt, in eine Friedenswolle gepackt. Wir glaubten, wir wären glücklich."

Wie damals bei der Wahl von Trump weckt mich meine Frau frühmorgens mit einer SMS: "Raketen auf Kiew". Fuck. Das ist wie damals bei 9/11. Ist es womöglich sogar schlimmer? Was wird nur daraus?

Am Sonntagabend eine ermattete Runde bei Anne Will. Fahle, leere Gesichter. Ein ratloser Karl Schlögel. Mein unerschütterlicher Optimismus weicht einer tiefen Erschöpfung. Ich mache die Talkshow aus. Das erste Mal überhaupt. Die Nachrichten-Fatigue so vieler. Ich kann sie verstehen.

Omikron war gerade durchgezogen – haben wir nicht ein Recht auf eine kleine Pause, verdammt!? Es waren doch bereits zwei Jahre wie eine nicht enden wollende Nackenverspannung. Krisen reihen sich nicht aneinander wie auf der Schnur gezogen. Sie sind vielmehr ein Schichtsalat des Schreckens. Und das alles nur, weil dieses russische Riesenarschloch im Dämmerlicht der Manneskraft sich zum Siebzigsten kein Motorrad kauft wie alle anderen, sondern die Ukraine überfällt.

Hinterher haben es natürlich alle vorher schon gewusst

Merkel wird geschichtlich neu eingeordnet und versucht, ihre Politik an Putins Tropf zu etwas Cleverem umzudeuten. Es mag nicht so recht verfangen, und die immer schon seltsame heiße Madonnenverehrung der Kanzlerin tritt in ihre Erkaltungsphase ein. "Mutti" hat auf Pump gelebt, und wir wollten es nicht wahrhaben.

Unser Leben war billig, aber verdammt teuer. Volkssport Rückwärtsschläue. Hinterher haben es natürlich alle vorher schon gewusst. Schröder übernimmt die Demontage lieber gleich selbst und wird vor der enttäuschten Öffentlichkeit zumindest mit rigoroser Hafermilchdiät gastronomisch kastriert.

Selenskyj, eben noch gescheiterter Korruptionsbekämpfer im eigenen Land und "Let's Dance"-Tanznudel, wird zum widernatürlichen Helden, dessen vermeintliche Schwäche zur Superkraft wird: Der Schauspieler weiß passgenau zu kommunizieren und in dieser ach so hochtourigen Aufmerksamkeitsökonomie den Unterstützungsdruck hochzuhalten.

UN, Oscars, Berlinale. Eine beispiellose Meisterleistung, weshalb es wenig verwundert hätte, wäre er auch noch beim politischen Aschermittwoch in Passau zugeschaltet worden. Er ist ja wirklich überall. Und das muss er auch. Das olivfarbene T-Shirt wird zur Manifestation einer postmodernen Resilienz und gern getragen von Leuten wie Elon Musk, um ihre eigene Wurstigkeit zu camouflieren.

Wochenlang nehme ich fast stoisch die Nachrichten auf. Bomben. Zerstörung. Zahlen. Fakten. Dann bricht es beim durchs Handyscrollen in der Bahn aus mir heraus. Bei Instagram dann der Anblick eines erschossenen Mädchens namens Polina. Auf dem Foto lächelt das zehnjährige Mädchen, hält ein paar bunte Steine in ihren Händen in die Kamera.

Hemmungsloses Schluchzen. Diese Sinnlosigkeit. Was ist das alles nur für eine verdammte Scheiße. Und wir sind nicht einmal mittendrin. Wir stehen nur am Rande und liefern gerade so viel, dass der territoriale Vielfraß bitte irgendwann ermüdet seine Pläne aufgibt, bis auf unsere Fußmatte vorzudringen.

Manches ist fast komisch: Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern strahlt den Landtag solidarisch blau-gelb an, während die Mitarbeiter panisch versuchen, die Löcher in Nord Stream 2 zu flicken. Symbolik können wir. Vielleicht geht's ja irgendwann doch wieder mit Russland.

Militärexperten sind die Virologen der Zeitenwende

Der tapfere Warner Karl Lauterbach sitzt zweieinhalb Jahre lang in jeder Talkshow und hat mitunter mehr Präsenz als das Apple-Logo. Just in dem Moment, als er ein neues Buch zu promoten hat und Öffentlichkeit gut gebrauchen kann, bricht der Krieg aus und schlagartig wird er für ehemalige NATO-Generäle aus dem Studio gekärchert. Was soll er uns auch noch erzählen? Dass die vierte Impfung gegen die Atombombe hilft?

Militärexperten sind die Virologen der Zeitenwende, Masala ist der neue Drosten, und wenn wir heute von Abstand halten reden, dann höchstens zu den Russen. Wer früher sämtliche Corona-Varianten aufzählen konnte, betet heute kamasutraartig die Panzertypen runter, und die Art, wie manche im politischen Berlin Panzer – #freetheleopard – abkulten erinnert stark an die Impfeuphorie des späten 2020. Der Krieg ist die neue Pandemie. Wann wird das Kriegsgeschehen zum militärischen Superspreadingevent?

Was ist für die Ukrainer zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Wann bricht das dünne Eis der Kriegsunbeteiligung? Der Kanzler. Ein Zauderkünstler. Oder vielleicht auch nur beeindruckend resistent gegenüber den Wutwellen und Forderungen der Digitalöffentlichkeit.

Ist es jetzt nicht langsam mal gut mit Kämpfen? Was ist mit Verhandlungen? Ist das mit dem Krieg jetzt auch wieder so ein Marathon, eine letzte Kraftanstrengung? Alle stecken schon wieder in den alten Tribalismen, diesem schwer erträglichen Lagerdenken. Alte Diskursschablonen, neu angelegt: Jene, denen es schon während Corona nicht zu doof war, die Pandemie in Team Drosten oder Team Streeck einzuteilen, setzen diesen Sound nahtlos fort, wenn es um "Lumpenpazifisten" und "Kriegstreiber" geht.

Offene Briefe anstößig wie offene Hosen

Wir haben nichts gelernt. Jede Woche neues Gewinnungsboulevardtheater. Stegner gegen Strack-Zimmermann. Wagenknecht gegen Major. Chrupalla gegen Göring-Eckhart. Neue Allianzen und alte Gewissheiten, die fallen. Der gute Lula mag partout nicht zur Ukraine halten. Die böse Faschistin Meloni wiederum schon. Und Reinhard Mey ruft zu einer Demo auf, zu der die AfD gerne kommen würde. Offene Briefe anstößig wie offene Hosen. Nach Manifest kommt ab. Als Friedensliebe getarnte Angstzustände.

Würden die Betonpazifisten doch einfach frei heraus sagen, dass sie Schiss haben, man würde es doch verstehen. Und fürwahr, wann hatte man jemals mehr Grund, sich zu ängstigen als im Angesicht atomarer Bedrohung. Pathos. Werte. Moralisten. Skrupel. Zeitenwendehälse. Wir sind engagiert, wütend, traurig, müde und abgestumpft. Alles gleichzeitig.

Breaking Noise. Pushmitteilungsphobie. Atombombendrohungsnonchalance. Eskapismus.

Und dass ich mich statt für Iris-T plötzlich für Iris Klein interessiere, das kann man getrost als Krisensymptom bezeichnen.

Ein Jahr. Nur ein Jahr. Am Samstag werden wir wieder in dieser Küche sitzen. Womöglich ein bisschen weniger niedergeschlagen, ermattet, sorgenvoll. Ein gutes Zeichen ist das nicht.

PRODUKTE & TIPPS