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ESC-Clubkonzert in Hamburg Mama, wir haben gewonnen!

Beim Konzert in Hamburg spielten zehn Nobodys um die Wildcard für den deutschen ESC-Vorentscheid. Am Ende siegten drei gestanden Frauen mit Balkan-Pop gegen feinfühlige Gitarrenmädchen von YouTube.
Von Simone Deckner

Hinter S-Bahn-Gleisen, im unglamourösesten Stadtteil Hamburgs ist in einer ehemaligen Margarinefabrik am Donnerstagabend vielleicht unser Star für Dänemark gekürt worden. Vielleicht, weil es hier "nur" um die Wildcard für den ESC-Vorentscheid ging. Der Vorentscheid-Vorentscheid gewissermaßen. Oder das, was von Stefan Raab übrig blieb. Der hatte, die Älteren erinnern sich, 2010 dem verschnarchten ESC wieder Leben eingehaucht, indem er mutige Nobodys vorsingen ließ, statt wie in den 80 Jahren vorher, den selbsternannten ESC-Sonnengott Ralph Siegel entscheiden zu lassen, wer für Deutschland in die globale musikalische Bütt darf.

Wie triumphal das endete, ist allgemein bekannt: Eine bis dahin nur ihren Mitschülern bekannte Lena Meyer-Landrut versetzte erst ihre Heimat und dann die ganze Welt in Entzücken mit dem Tanzstil eines tölpeligen Waschbärs und einem charmant-ohrwurmigen Lied über einen Satelliten. Raab durfte noch zwei weitere Male ran und erzielte achtbare Ergebnisse. Doch im vergangenen Jahr suchte der NDR allein - mit desaströsen Folgen: Man schickte mit Cascada eine Vertreterin der Gattung Euro-Trash-Stampfdisco zum ESC, die mit Pauken, Trompeten und viel künstlichem Rumms unterging (Platz 21).

Eltern und Freunde im Publikum

Darum gibt es in diesem Jahr neben den bereits gesetzten Kandidaten wieder einen Publikumsjoker. 2240 Künstler waren dem Aufruf gefolgt, sich mit YouTube-Videos für "Unser Song für Dänemark" zu bewerben. "Hier treten heute zehn Acts auf die völlig, äh, weitgehend unbekannt sind", verplappert sich Moderatorin Barbara Schöneberger zu Beginn der Show im Hamburger Edelfettwerk. Gewohnt salopp und selbstironisch führt sie durch den Abend, der live im Fernsehen übertragen wird. Im Publikum: Freunde der Kandidaten, die Eltern der Kandidaten, Nachbarn der Kandidaten und Journalisten.

Als Erste kommen drei Frauen aus Berlin auf die Bühne. Mit Quetschkommode, Kontrabass und einer Sängerin mit doller Stimme, Ihr Song "Is It Right" ist eine schnickschnackfreie Balkan-Pop-Nummer mit hohem Wiedererkennungswert. Der Refrain zieht sich schön dahin wie zwei Stunden altes Kaugummi: "Is it rai-rai-rai-rai-raight?", fragen Elaiza.

Simon Glöde setzt hingegen auf Theatralik. Mit Nick-Cave-Gedächntnisfrisur und schwarzem Glitzer-Hemd versucht er in seinem kurzen Vortrag alle pathetischen Rockstar-Posen unterzubringen, die er kennt. Es sind viele. Arme in die Höhe, bedeutungsvolles Gesicht, Beckenkreisen. Aber was sollen die Grimassen mit gebleckten Zähnen? Irgendein YouTube-Trend, den man verpasst hat womöglich. Leider ist Glödes Rumpelrock ungleich öder als seine unterhaltsame Performance.

Keine Lust auf süße Mädchen mit Gitarre

Auch bei der später Zweitplatzierten Caroline Rose herrscht ausgelassene Stimmung im Saal. Optisch ist die Deutsch-Französin eine Mischung aus Amy Winehouse und Eliza Doolittle. Singen kann sie wie Janis Joplin nach einer Mandelentzündung. Früher tat sie das in Metalbands. Was den Schrägheitsfaktor betrifft wäre sie erste Wahl. Gewandelt zeigen sich auch Bartosz. "Früher konnte man zu unserer Musik tanzen, jetzt kann man dazu weinen", so die ulkige Ansage. Der Bartosz-Sänger hat einen gar nicht weinerlichen Vollbart und wiegt sich schön melancholisch auf der Bühne herum.

Was auffällt: Von Lampenfieber ist bei den meisten Kandidaten nichts zu spüren. Dabei ist es für viele der erste Auftritt vor größerem Publikum. Beneidenswerte Jugend 2.0. - so selbstbewusst, so medienaffin. Selbst die mit 16 Jahren jüngste Teilnehmerin Ambre Vallet (kein Künstlername) stellt sich mit Gitarre in der Hand auf die Bühne, als spiele sie ihrer Oma im Waschkeller mal eben was vor. Nur einer merkt man die Nervosität an: Cassie Greene hypnotisiert ihre Schuhspitzen angestrengt, bevor die Musik beginnt. Wenn das Publikum in der Halle allein entscheiden könnte, wäre der Lokalmatadorin der Sieg sicher.

Originell ist etwas anderes

Davor stehen aber noch diverse feinfühlige Mädchen mit Gitarre, die das verhindern wollen. Alle wussten ausnahmslos schon "seit dem Kindergarten", dass sie mal Musikerin werden wollten. Seither trällern sie schnulzige Balladen von Ed Sheeran, Leona Lewis und Konsorten nach und laden sie bei YouTube hoch. Allesamt können sie sich mit ihren Kollegen von "DSDS", "X-Factor" und Co. messen - originell ist etwas anderes.

Und so holen sich am Ende die drei Frauen mit Quetschkommode, Kontrabass und doller Stimme den Sieg. 23,6 Prozent entscheiden sich für Elaiza. Die Drei sind ein schöner Kontrast zu den ganzen Feenwesen, J-Lo-Verschnitten und Operndiven, die man normalerweise beim ESC vorgesetzt bekommt. Und ihre Chancen, den unseligen Grafen von Unheilig oder die Schunkel-Shanty-Rocker von Santiano auszubooten, sind gar nicht mal so schlecht. Bis zum deutschen Vorentscheid am 13. März in Köln wird sich auch Sängerin Elzbieta wieder gefangen haben. "Leute, ich muss das erst mal realisieren", hatte sie spontan und mit ungläubigem Blick nach der Ergebnisverkündung gestottert. Und dass sie bitte ganz schnell telefonieren wolle: Mama, wir haben gewonnen!

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