Man weiß noch ganz genau, wie das hier war in Köln. Suchscheinwerfer, die nachts den Rhein beleuchteten, Betonwände, Stahlgitter, Aussichtsturm und Leibwächter in Bomberjacken. Alles um ein rostbuntes Hausboot im Mülheimer Hafen, auf dem sich die vagabundierende Familie der Kellys vor ihren Fans verschanzte. Hunderte lagerten damals vor den Sperrgittern, meistens junge Mädchen, die in den Kellys so etwas wie eine heile Welt sahen und denen die Bewacher die Arme umdrehten und Souvenirkameras wegnahmen, wenn sie ihrem Traum zu nahe kamen.
Und auch mit der Presse führte der irischstämmige Clan-Chef Dan Kelly eine keifende Schlacht. »Es ist Krieg!«, schrie er Reportern ins Telefon. Das war Mitte der 90er Jahre, und Deutschland rätselte über das Phänomen, wie eine Familien-Sippe aus neun Kindern, die unter langer Haarpracht und langen Kleidern von hinten wie von vorn aussahen, mit klampfiger Hausmusik ganze Stadien füllte, Millionen Platten verkaufte und geschätzte 25 Millionen Euro Umsatz verbuchte.
Doch wie das so ist - auch die eingeschworensten Großfamilien-Kinder werden älter. Und wenn man sich heute mit Joey, Paddy und Patricia Kelly trifft, sind der Habitus staubiger Häkeldecken und die Hysterie verflogen. Im Gegenteil, mit konzentriertem Ernst arbeiten die Kellys daran, aus der ehemaligen »EinheizDecke« (»SZ«) ein musikalisches Mittelstandsunternehmen zu machen. Im März erscheint nach langer Pause ein neues Album, und in dieser Woche stellen sich die Kellys bei der Vorausscheidung zum Grand Prix mit ihrer Single »I Wanna Be Loved« einem Millionenpublikum.
In der Vergangenheit hätten sie auch Fehler gemacht, sagen sie heute. »Wir waren mit unserem Erfolg völlig unerfahren«, gesteht Patricia Kelly. Doch sie sind davon überzeugt, dass es immer noch einen Grund gibt, Kelly-Musik zu hören, »es gibt doch so wenig gute Musik«, so Joey Kelly, der seinen muffigen Wollpullover mit dem ersten Versuch eines Business-Anzugs getauscht hat.
Nach einer zweijährigen Pause tritt die Kelly Family beim Grand Prix an. Warum?
Patricia: Es war eine ganz spontane Idee. Wir hatten sowieso vor, in diesem Frühjahr eine neue Platte herauszubringen.
Sie nutzen den Grand Prix also nur als Promotion-Aktion, um für eine neue Platte zu werben.
Paddy: Nicht nur. Früher hatte der Grand Prix ein sehr schlagerartiges, fast spießiges Image. Dank Guildo Horn und Stefan Raab ist das heute etwas lockerer geworden. Was uns aber vor allem reizt, ist, dass der Grand Prix die einzige Sendung ist, in der das Publikum über den Gewinner entscheidet.
Sie treten gegen den Grand-Prix-Veteranen Nino de Angelo und die Christ-Popper Normal Generation an. Welche Chancen rechnen Sie selbst aus?
Paddy: Wir haben 3,5 Millionen Platten verkauft mit unserem Album »Over The Hump« und Stadien gefüllt. Ich weiß nicht, ob wir das überbieten können. Den Grand Prix sehen wir eher als Gelegen-heit, uns zu bedanken - unser Erfolg hat schließlich in Deutschland seine Wurzeln.
Viele Jahre schottete sich die Kelly Family von der Öffentlichkeit ab. Es gab nur wenige, gefällige Interviews für das TeenieMagazin »Bravo«. Bereuen Sie heute diese abwehrende Haltung? Immerhin brachte sie der Kelly Family jede Menge negative Schlagzeilen.
Patricia: Wir waren doch mit unserem Erfolg völlig unerfahren. Innerhalb von zwei Jahren hatten wir es von Straßenmusikanten zu Popstars mit Top-Ten-Hits geschafft. Das war einfach zu viel für uns. Einmal kamen wir von einer Tour nach Hause, und ein Fan hatte sich auf unserem Hausboot in der Toilette versteckt. Wir fühlten uns verfolgt.
Paddy: Zuerst waren wir die Engel der Presse, als wir uns dann zurückzogen aus der Öffentlichkeit, waren wir die Teufel. Es gab Gerüchte über Steuerhinterziehung und Aids in der Familie. Zum Glück ist die Zeit der Schlagzeilen vorbei.
Nicht ganz - zuletzt hieß es, Joey habe das Auto eines Fans in einem Wutanfall zu Schrott geschlagen.
Joey: Dieses Mädel hatte nur ein Hobby: Die Kellys ärgern. Überall, wo wir auftauchten, war sie schon da. Die Fotos, die sie von uns schoss, verkaufte sie an andere Fans oder auch an Zeitungen. Über Silvester belagerte sie vier Tage lang das Haus von Angelo in der Nähe von Köln, von morgens bis abends. Irgendwann kamen sogar die Nachbarn heraus und haben sie gebeten fortzugehen. Ohne Erfolg.
War das Grund genug für Sie, das Auto zu zertrümmern?
Joey: Nein, das war ein Fehler, der mir leidtut. Inzwischen hat sich das Mädel auch bei uns entschuldigt und versprochen, dass sie uns nicht mehr auflauern wird.
Haben Sie nun Angst, dass Sie gerade vor dem Grand Prix Ihr Image als heile Familien-Band verspielt haben?
Joey: Nein, weil ich glaube, dass die Kelly Family dieses Bild gar nicht mehr vermittelt. Wir sind - genau wie unsere Fans von damals - erwachsen geworden.
Patricia: Früher war es unser Vater Dan, der die Kelly Family zusammenhielt. Nun ist er krank, er hatte einen Gehirnschlag und ist zum Pflegefall geworden, um den wir uns kümmern müssen.
Jetzt haben Sie auch Ihren Familien-Wohnsitz, das Schloss Gymnich in der Nähe von Köln, als Wellness-Center verpachtet. Geht Ihnen etwa das Geld aus?
Paddy: Nein, der Grund ist ein anderer. Nach und nach sind immer mehr meiner Geschwister ausgezogen. Am Ende waren wir noch zu dritt: ich, Angelo und mein kranker Vater - und das auf 4000 Quadratmeter Wohnfläche. So viel Platz braucht doch wirklich kein Mensch.
Jochen Siemens, Hannes Ross