M.I.A. Die Pop-Piratin

  • von Vivian Alterauge
Unermüdlich singt M.I.A. alias Matangi Arulpragasam gegen das Böse in der Welt an - auch mit Misstönen.

Das Gespräch ist fast gelaufen, eigentlich sollte jetzt Schluss sein, da fängt Matangi Arulpragasam an zu bauen: einen Eisblock aus Gläsern (das System), ein Smartphone als Eisbrecher (sie selbst), ein Publikum aus kleinen Flaschen. "Im Kern ist das hier meine Geschichte", sagt die Frau, die besser bekannt ist unter ihrem Künstlernamen M.I.A. Das Smartphone steuert auf die Gläser zu. "Irgendwann wird das Eis bersten", sagt M.I.A. und schiebt nun auch die Flaschen vor den Eisblock. Schließlich gibt das Eis nach.

Gemeinsam haben sie es geschafft - so könnte man M.I.A. jetzt verstehen. Sie aber sagt: Die Zuschauer hätten ihr gar nicht helfen wollen, sondern seien nur hinter ihr her gewesen. In ihrer Welt ist sie Einzelkämpferin und Gejagte.
Auch nach 13 Jahren im Popgeschäft, nach Hunderttausenden verkauften Platten sieht M.I.A., mittlerweile 41, sich immer noch für das Gute kämpfen, für Flüchtlinge, gegen Rassisten, gegen FBI und CIA und Google.

Ist sie eine linke Revoluzzerin, oder tut sie nur so?

M.I.A. gilt als krawalligste Popsängerin unserer Zeit. Mit ihrer Bekanntheit wuchsen auch die Widersprüche: Ist sie tatsächlich eine linke Revoluzzerin, oder tut sie nur so? Ist alles eine bloße Pose für bessere Albumverkäufe? Doch M.I.A. sagt: Wäre meine Geschichte nicht echt, hätte ich das nicht all die Jahre ausgehalten. Die Agitation ist dabei ihr Antrieb geblieben, ihr Erkennungszeichen. Das hat sich auch auf "AIM", ihrem fünften Album, nicht geändert: M.I.A. spielt immer auf Angriff.

Das neue Album "AIM" klingt sehr typisch für M.I.A.: wie ein entschlossenes Statement in Popsongs, unterlegt mit einem Tohuwabohu aus Hip-Hop und Dancehall, aus Elektro und Worldmusic. Mal krächzt ihre Stimme, mal hallt sie. Eine Platte wie eine Mischung aus Greenpeace-Aktion und Benetton-Werbung. Wäre schade, wenn dies tatsächlich das ab schließende Werk von M.I.A. darstellte.

Dabei wirkt sie zu Beginn des Interviews eher verschüchtert. In ihren Fingern dreht sie die langen Locken, sie trägt ein Tülloberteil in Orange, der Farbe ihres neuen Albumcovers. Auch die Nägel sind neonorange lackiert, sie sind spitz zurechtgefeilt. Sie freue sich, in Berlin zu sein, sagt sie. Es sei wichtig, anzuerkennen, was Deutschland im vergangenen Jahr geleistet habe. "Das war mutig und cool. Die Deutschen haben sich eingesetzt, während alle anderen superirrsinnig nach rechts gerückt sind." Sie verfällt in einen Kurzmonolog über den europäischen Rechtsdrall sowie ihre Sorgen vor neuen Imperien. Wenn sie etwas loswerden möchte, dann durch sprachliche Druckbetankung, egal, auf welchem Kanal. Persönlich, musikalisch, auf Twitter.

Kürzlich wurde ihr Auftritt als Headlinerin beim "Afropunk"-Festival in London abgesagt, weil sie sich in einem Interview mokiert hatte, US-Popstars sprächen ausschließlich über „Black Lives Matter“, also über die Belange von Afroamerikanern, nicht aber über die Nöte von Muslimen oder Syrern. Sie erntete Kritik und Wut. Dass es keine gute Idee ist, die eine Ungerechtigkeit mit dem anderen Missstand aufzuwiegen, will die Sängerin - ob im Eifer des Gefechts oder zumindest für die Pose - nicht wahrhaben. Sie relativierte ihre Aussage auf Twitter, möchte aber anschließend nicht mehr darüber reden. Auf Nachfragen bleibt sie vage. Sie sagt, ihr sei es eher darum gegangen, zu betonen, wie US-zentriert die allgemeine Wahrnehmung sei. "Wir hören die Stimme der Amerikaner am lautesten."

Tochter von Einwanderern

Dabei möchte M.I.A. selbst laut gehört werden. Sie hat so viele Nachrichten an die Welt. In einem ihrer Musikvideos ließ sie Menschen Stacheldrahtzäune entlangbalancieren und stellte Dutzende Männer und Frauen auf einen wackeligen Kahn, der übers Meer schlingerte. Die Botschaft: mehr als deutlich.

Matangi Arulpragasam kam in London zur Welt, als Tochter von Einwanderern aus Sri Lanka. Schon bald aber kehrte die Familie in die Heimat zurück. Der Vater begründete eine tamilische Widerstandsbewegung mit und musste irgendwann untertauchen. Die Mutter floh mit ihren zwei Töchtern zuerst nach Indien: Dort war Matangi das bitterarme Mädchen mit dem verpönten tamilischen Akzent. Später zogen sie wieder nach London: Dort riefen Rassisten "Paki" hinter ihr her. M.I.A. hingegen lernte schnell, sich anzupassen in ihrer neuen Heimat. Sie lernte, dass in der Mode der Designer John Galliano angesagt war und wo sie einkaufen gehen sollte, damit sie dazugehört.

Ihr Leben aber blieb ein Wirrwarr aus Einflüssen und Zugehörigkeiten. "Meine Identität hat sich ständig gewandelt", sagt sie. Sie hatte verschiedene Freundinnen für unterschiedliche Themen, die sich untereinander nicht kannten. Lange Zeit traute sie sich deshalb nicht, ihren Geburtstag zu feiern: Die Gäste hätten sich nichts zu sagen gehabt. Inzwischen, so sagt M.I.A., breche sie ihr Dasein radikal herunter: auf das Menschsein. Das klingt gleich ein bisschen esoterisch.

Mehr Ex-Manager als Ex-Freunde

Ihre politischen Statements irritieren oft, weil sie zu verknappt sind, zu missverständlich, auch zu naiv; und dann lebte sie eine Zeit lang mit ihrem damaligen Mann, einem überaus reichen Erben, auch noch in einem sehr großen Haus in einer sehr wohlhabenden Gegend. Trotzdem sind M.I.A.s Wirkung und Botschaft immer noch größer als die von Popgrößen, deren Instagram-Account manchmal liebevoller zusammengestellt scheint als ihre Musik. Ein bisschen charmant wirkt es schon, wenn sie erzählt, dass sie inzwischen mehr Ex-Manager als Ex-Freunde habe - 14 an der Zahl -, weil sie deren Warnungen und Ratschlägen nicht nachgeben wollte.

Nun verkündet M.I.A., dass ihr neues auch ihr letztes Album sein werde. Das Eis sei schließlich gebrochen, ihre Botschaft sei durchgesetzt, sie selbst am Ziel angekommen. Wenn aber M.I.A. abtritt - wer übernimmt ihre Nachfolge? "Ich warte noch auf diesen Jemanden", sagt sie. Ein Popstar besitze eine Halbwertszeit von zehn Jahren, die sei bei ihr überschritten. Eine Sache will sie dann aber doch noch klarstellen. "Der Eisbrecher: Das war ich."

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