Jamie Kantrowitz projiziert die deutsche Zukunft auf eine Leinwand. In den USA ist diese Zukunft schon Gegenwart. Kantrowitz, knapp über 30, Vizechefin von Myspace International, sitzt im Büro des Sozialnetzwerks in Berlin-Mitte. Sie hat einen Laptop aufgeklappt, der auf der Rückseite voller bunter Aufkleber ist. Neben Kantrowitz sitzt der Deutschland-Chef des Labels Sony BMG und schaut auf die Leinwand. Kantrowitz loggt sich in ihren Myspace-Account ein, und man sieht eine Liste mit allen Songs, die sie zuletzt gehört hat. Sie tippt den Namen für eine neue Playlist ein: "Berliner Rocks". Der Sony-Chef lacht.
Kantrowitz geht auf die Seite des US-Rappers T.I., dort sind alle seine Alben aufgeführt, jeder Titel. Sie entscheidet sich für "Whatever you like" und zieht das Stück in ihre Playlist. Bis zu 100 Songs lang kann die Liste werden. Die Auswahl ist riesig. Alle vier Major-Labels haben ihre Kataloge zur Verfügung gestellt. Von Amy Winehouse bis ZZ Top sind tausende Künstler mit ihrem gesamten Werk vertreten. Kantrowitz klickt auf den Myspace-Player, der als neues Browser-Fenster aufpoppt. Aber auch wenn sie sich bei Myspace abmeldet, kann sie "Whatever you like" von T.I. und sämtliche andere Titel beim Surfen anhören. Gratis.
Versuch einer Versöhnung
Das neue Angebot, das Kantrowitz hier vorführt, heißt Myspace Music. Es ist gerade in den USA gestartet, und es könnte ein Schritt in Richtung Versöhnung sein. Einer Wiederannäherung zwischen Musikliebhabern und Plattenindustrie. Der Graben ist tief: Die einen haben sich daran gewöhnt, dass Musik dank des Internets in rauen Mengen verfügbar ist und wollen dafür möglichst wenig zahlen. Die anderen sind beleidigt, dass die ehemaligen Kunden kaum noch CDs kaufen und kämpfen gegen die Gratis-Kultur im Netz, indem sie Online-Piraten in Grund und Boden klagen.
Zwar profitieren die Labels auch von einer steigenden Zahl von Download-Verkäufen - gerade erst hat eine Studie ergeben, dass in Deutschland insgesamt zwölf Millionen Songs in Internet-Shops verfügbar sind, acht Millionen davon beim Marktführer iTunes. Demnach sind 30 Prozent mehr Titel als im Vorjahr heruntergeladen worden. Die Einbrüche im CD-Geschäft aber kann das lange nicht wettmachen.
200 Millionen User
Bei Myspace Music arbeiten Myspace und die größten vier Labels nun zusammen. Auch eine Indie-Firma ist dabei, mit den anderen wird gerade noch zäh verhandelt. Die Versöhnung sieht so aus: Die mehr als 200 Millionen registrierten User bekommen ein riesiges Angebot an Songs, das sie online gratis hören können. Währenddessen wird über Banner Werbung gezeigt. Auch der Myspace-Player ist gesponsert: In Amerika gibt es einen Toyota Tuesday, das ist der Tag an dem die neuen Stücke heraus kommen. Über die Werbung verdienen die Labels Geld.
Ein alternatives Geschäftsmodell, sagt Kantrowitz: "Sie können sich so ein neues Wirtschaftsumfeld aufbauen". Außerdem hat die Industrie auch etwas davon, wenn dank des Internet-Shops von Myspace Music die Download-Zahlen weiter steigen. Neben jedem Song findet sich ein "Buy-Button". Der versöhnliche Teil für den Kunden: Die Titel aus dem Shop sind Kopierschutz-frei. Er kann damit machen, was er möchte und muss sich nicht mit verschiedensten Formaten wie AAC, WMA oder M4a herumärgern, die nicht mit jedem MP3-Player harmonieren.
Die Plattenfirmen gehen mit dem massiven Streaming-Angebot, das es so im Netz bisher nicht gab, ein enormes Risiko ein. In gewisser Weise akzeptieren sie damit die Gratis-Kultur. Im Gegenzug werden sie an den Einnahmen beteiligt. Es gibt erste Anzeichen, dass die Annäherung funktionieren könnte. Etwa eine Milliarde Songs haben Online-Hörer nach dem Start von Myspace Music in den USA per Streaming abgerufen, verkündet Kantrowitz.
Hat was von Radio
Im Grunde sei das ähnlich wie beim klassischen Radio, sagt Scott Woods, Vizepräsident der Musik-Community Last.fm. Da läuft die Musik auch den ganzen Tag gratis - finanziert von Spots. Last.fm ist vor allem eine Art Webradio. Per Live-Stream hören Nutzer zufällig ausgewählte Titel - die sich an ihrem Geschmack orientieren. Ähnlich wie bei Myspace können auch einzelne Songs aufgerufen werden. Last.fm kooperiert mit den vier Majors und etlichen Indies. Auch Woods hat für die Partner gute Nachrichten: Je mehr Musik es zum Streamen gratis gibt, desto mehr wird offenbar gekauft. Um 120 Prozent seien die Verkäufe in den ersten Monaten dieses Jahres gestiegen - nachdem sie ihren Service Free-on-Demand gestartet hatten, bei dem sich einzelne Titel kostenlos abspielen lassen. Ob die Werbebanner das umfangreiche Angebot komplett finanzieren können, muss sich bei Last.fm zeigen. "Wir sind zuversichtlich", sagt Woods.
Er sieht das Netzwerk vor allem als Werbeplattform, auf der die Labels ihre neuesten Interpreten anpreisen können, indem sie etwa komplette Album-Previews anbieten, bevor die CDs in die Läden kommen. Die Präsenz mit Gratis-Titeln bei Last.fm, Myspace Music und den zahlreichen anderen Konkurrenten auf dem dichten Online-Markt, sei so etwas wie eine permanente Kampagne - die deutlich weniger kostet als exzessives Plakatieren in Städten oder das Schalten von TV-Werbe-Spots. Dadurch kämen mehr Besucher zu Konzerten und Festivals, wo mittlerweile das Geld verdient werde. Davon haben auch die, die die Musik überhaupt schaffen etwas: die Künstler. Vertragen sich am Ende doch wieder alle?
Zugang statt Besitz
Nicht unbedingt. Gerüchten zufolge sollen einige Stars vor dem Start von Myspace Music gemeutert haben, weil sie den Eindruck hatten ihr Werk werde dort verscherbelt. "Die Labels und die Musikverlage bestimmen, welche Musik auf der Seite erscheint", sagt Kantrowitz. "Aber ich denke, dass MySpace den Künstler wertvoller macht - weil der Abstand zwischen Fans und Musik viel geringer wird. Das Innovative daran ist doch außerdem: Es gibt jetzt plötzlich eine neuen Markt an einem Ort im Internet, der vorher vor allem Werbezwecken gedient hat. Es ist für alle Beteiligten eine Möglichkeit, Geld zu verdienen - zumindest mehr Geld als vorher möglich war."
Ein Brancheninsider sieht das etwas anders: "Am Ende wird dein Produkt dann doch irgendwie verramscht - im Paket mit einer Million anderer Tracks." Unabhängigen Kleinstkünstler eröffnen sich neue Verdienstmöglichkeiten, hält Woods dagegen. Gerade wenn penibel jeder einzelne Track, den ein User anhört, abgerechnet wird. Für die Netzwerkbetreiber bedeutet das Aufwand: Sie müssen sicherstellen, dass die Statistiken nicht von Klickprogrammen manipuliert werden. Bei Myspace fällt das in den Bereich Sicherheit.
Hunderte Mitarbeiter seien bei MySpace mit dem Schutz der Daten vor Missbrauch beschäftigt, sagt Kantrowitz. Langfristig dürften es noch mehr werden. Denn je einfacher Musikfans über Handys oder Smartphones im Internet surfen können, desto eher geben sie sich mit Streams zufrieden. Dann geht es um Zugang, nicht mehr um Besitz, sagt Scott Woods. Er glaubt, dass es irgendwann möglich sein wird, von verschiedenen Geräten - egal ob Handy, MP3-Player oder Hifi-Anlage – auf ein und dieselbe Musikbibliothek zuzugreifen.
Schöne neue Welt im Abo
Finanziert werden könnte das über Abo-Modelle. Bei Last.fm entwickeln sie gerade eines. Napster und einige Konkurrenten bieten Flatrates an. Majors überlegen, ähnliches einzuführen. Auch Handyfirmen starten Projekte, bei denen es zum Mobilfunkvertrag einen Musikkatalog gibt. Bei Myspace Music wird ebenfalls über ein Abo-Modell nachgedacht. Zunächst einmal aber gilt es die Unannehmlichkeiten und Pannen zu korrigieren, von denen amerikanischen Blogger immer wieder berichten. Und die Expansion nach Deutschland steht an.
Bisher ist dabei noch nicht einmal klar, mit welchem Partner das Unternehmen hier den Online-Shop aufzieht. In den USA ist es Amazon. Man verhandle, sagt Kantrowitz. Außerdem gebe es Schwierigkeiten mit der Gema. Es kann also noch ein bisschen dauern, bis die Zukunft in Deutschland beginnt. Frühester Termin: Anfang nächsten Jahres.