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Massenlöschung bei Myspace Wenn die digitalen Erinnerungen plötzlich weg sind

Über Nacht wurde das digitale Leben der Myspace-User ausgelöscht, Fotos und Blogs offline gestellt. Ein Szenario, das vor zwei Jahren undenkbar schien. Was folgt: ein aussichtsloser Kampf um Privates.
Von Jens Wiesner

Der 12. Juni 2013 sollte das Online-Netzwerk Myspace in eine neue Ära katapultieren: US-Schauspieler und Mit-Investor Justin Timberlake hatte ins glamouröse El Rey Theater nach Los Angeles geladen, um den Relaunch der angeschlagenen Online-Plattform zu feiern. Myspace - dieser Name sollte endlich wieder jung, hip und sexy klingen. Dementsprechend las sich auch die Gästeliste des Abends: Robin Thicke sang, Miley Cyrus tanzte und Vanessa Hudgens posierte in zerschlissenen Dreivierteljeans.

Doch während die Prominenz die Korken knallen ließ, starrten langjährige Nutzer geschockt auf ihre Bildschirme: Die neue Oberfläche war schick - aber gähnend leer. Was nicht ins hippe Konzept passte, hatten die neuen Besitzer der Plattform, die Specific Media Group und Justin Timberlake, kurzerhand aus dem Netz genommen. Ohne Erklärung, ohne Vorwarnung - und ohne eine Möglichkeit, an die verschwundenen Daten zu gelangen. Auch wenn Myspace vornehmlich als Visitenkarte für junge Bands konzipiert worden war - viele Nutzer hatten dort über Jahre Freundschaften gepflegt, Blogs veröffentlicht oder Konzertfotos eingestellt. Doch nur die wenigsten dachten daran, ihre Daten auch außerhalb des Netzwerks zu sichern. Zu groß, zu wichtig schien die Seite, um ohne Vorankündigung verschwinden zu können.

Der Wert der Erinnerung

Dabei waren die goldenen Jahre des Netzwerks längst passé. Millionenfach waren die Nutzer in den vergangenen Jahren zu Facebook übergewechselt. Musste Rupert Murdochs News Corporation im Juli 2005 noch 580 Millionen US-Dollar für das Netzwerk auf den Tisch legen, zahlten Timberlake und Specific Media sechs Jahre später nur noch 35 Millionen. Myspace wurde zu einem Ort, den man gelegentlich besuchte, um sich an schöne, vergangene Tage zu erinnern, ein digitales Jahrbuch.

Wie wertvoll diese Erinnerungen sind, merken viele User erst jetzt: Im Feedbackbereich der neuen Seite entladen sich Wut und Enttäuschung über die Praxis der neuen Myspace-Inhaber. Denn oft geht es bei den verlorenen Daten um mehr, als nur beiläufig dahin gekritzelte Zeilen oder verschwundene Zwinkersmileys. "When_sakura_falls" beklagt den Verlust ihrer Gespräche mit einem Freund, der Selbstmord begangen hatte. "theskiesturnedfromgrey" tauschte über Myspace lange Briefe mit ihrem besten Freund aus, um dessen Krebserkrankung zu verarbeiten. Eine trauernde Mutter hatte das Netzwerk gar über drei Jahre regelmäßig besucht, nur um sich ein Video ihres Sohnes anzuschauen, der mit 16 Jahren gestorben war. Einig ist allen: Sie fühlen sich von ihrer einstigen Lieblingsplattform betrogen, einige drohen gar mit rechtlichen Konsequenzen.

Rechtlich schwierige Handhabe

Rolf Schwartmann, Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht, schätzt die Erfolgschancen für derartige Klagen gegen soziale Netzwerke und Forenbetreiber gering ein - insbesondere, wenn es sich um deutsche Nutzer handelt. "Bei Seiten von ausländischen Diensten muss erst einmal festgestellt werden, ob überhaupt deutsches Recht gilt." Im Fall Facebook hatte ein deutsches Verwaltungsgericht vor kurzem festgestellt, dass irisches Recht anzuwenden sei - weil der Konzern den Dienst letztlich aus Irland betreibe. "Aber das ist nicht mehr als eine erste Aussage", so Schwartmann.

Selbst wenn deutsches Recht gilt, kann sich ein Konzern noch immer auf die Nutzungsbedingungen berufen, mit der sich jeder User bei seiner Anmeldung einverstanden erklärt hat. Im Fall Myspace hatten die Nutzer einem Passus zugestimmt, der dem Unternehmen auch die Löschung von Userinhalten erlaubt. Eine Hinweispflicht auf eine bevorstehende Massenlöschung gab es nicht.

"Trotzdem - vorher Bescheid geben, um den Usern Zeit zum Sichern ihrer Daten zu geben, wäre angebracht gewesen", meint Schwartmann. So hatte es auch das Soziale Netzwerk SchülerVZ gehandhabt, bevor es Ende Juni endgültig abgeschaltet wurde. Auf reine Kulanz des Unternehmens muss sich ein User allerdings nicht verlassen - unter der Voraussetzung, dass sich der Streit im deutschen Rechtsgebiet abspielt. "Das deutsche Recht kennt eine Rücksichtnahmepflicht unter Vertragspartnern. Eine unangekündigte Massenlöschung wie im Fall Myspace könnte dagegen verstoßen." Gerade weil Soziale Netzwerke größtenteils noch terra incognita für die Rechtswissenschaft sind, rät Schwartmann betroffenen Nutzern, sich direkt bei Myspace zu beschweren.

Protest aus Down Under

Auf einen solchen Protest der Massen setzt auch Indrid Cold*: Der Australier gehörte zu den wenigen Usern, die Myspace bis zuletzt täglich nutzten. Und war entsprechend erbost, als ihm plötzlich ein leeres Profil entgegen starrte. Doch anstatt sich auf einen wütenden Gästebucheintrag zu beschränken, entschloss sich Cold, die Wut seiner Leidensgenossen in einer Kampagne zu bündeln. Er eröffnete eine Protestseite, sammelte die Geschichten enttäuschter Myspace-User und schickte offizielle Beschwerden an Verbraucherschutzorganisationen in den USA. Seine Forderung: Sieben Tage Zugriff auf die alten Profildaten, um die verlorenen Texte zu sichern.

Einen ersten Erfolg konnte Cold am 28. Juni verbuchen, wenige Tage, nachdem die ersten Beschwerden bei US-Behörden eingegangen waren. "Bitte versteht, dass eure Blogs nicht gelöscht wurden. Eure Inhalte sind sicher und wir befinden uns in Diskussion darüber, wie wir euch eure Blogs am besten zurückgeben können", ging Myspace in einer kurzen, öffentlichen Mitteilung auf die Proteste ein. Seitdem herrscht Funkstille in Sachen Blogs. Auch stern.de gegenüber wollte sich Myspace-Eigentümer Specific Media nicht äußern. Frühestens ab Ende August habe man wieder Zeit, die Anfragen zu bearbeiten, schrieb Jackie Chrystal von der für Myspace zuständigen PR-Agentur Rogers & Cowan.

Indrid Cold fürchtet nun, dass Specific Media die Empörungswelle schlicht aussitzen will und plant bereits, seine Kampagne auszuweiten. Eines ist aber schon jetzt sicher: Ganz egal, wie der Streit um die Profile ausgehen wird - sein Myspace-Konto will er nie wieder nutzen, das Vertrauen sei für immer zerstört. Seinen Protest organisiert der Australier sowieso über die Konkurrenz: Noch am 12. Juni meldete sich Cold bei Facebook an.

*Name der Redaktion bekannt

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