Dieser Tage sorgen zwei Netflix-Produktionen für Aufsehen: "Der Tinder-Schwindler" und "Inventing Anna". Beide erzählen die Geschichten von zwei Betrügern, Shimon Yehuda Hayut und Anna "Delvey" Sorokin. Ersterer lernte Frauen auf Tinder kennen, tischte ihnen eine falsche Lebensgeschichte auf, startete Beziehungen und lieh sich dann Geld, was er nie wieder zurückzahlte. Sorokin führte über Jahre die New Yorker High Society an der Nase herum, betrog Freunde und Banken. Und doch scheint es, als seien sowohl Hayut als auch Sorokin die Gewinner.
"Inventing Anna": Scharfe Kritik einer Betrogenen
Eine, die das scharf kritisiert, ist Rachel DeLoache Williams. Die ehemalige "Vanity Fair"-Fotoredakteurin war befreundet mit Sorokin, als diese in einem New Yorker Luxushotel residierte. Als Sorokins Kreditkarten im teuren Marokko-Urlaub nicht mehr funktionierten, bot Williams dem Hotel an, ihre eigene Karte als Sicherheit zu registrieren, bis Sorokin das Problem mit ihrer Bank klären konnte. Was sie da noch nicht wusste: Sorokin hatte überhaupt kein Geld. Der gesamte Urlaub, 62.000 Dollar, wurden von Williams' Karte und der ihres Arbeitgebers abgebucht. Es folgten Monate der Panik, bis die Redakteurin der Polizei zur Festnahme Sorokins verhalf.
Über ihre Erfahrungen mit der Betrügerin schrieb die Amerikanerin ein Buch, "My Friend Anna". Bei der Netflix-Serie hatte sie jedoch kein Mitspracherecht. Kurz vor Veröffentlichung schrieb Williams einen Artikel für das US-Magazin "Time", in dem sie den Streamingdienst für die Darstellung kritisiert. "Millionen werden zusehen, wie Anna als komplexe Anti-Heldin dargestellt wird, die gegen ihre persönlichen Dämonen und eine Welt kämpft, die junge Frauen ständig unterschätzt. Der Film wird von mehr Menschen gesehen werden, als Anna jemals kennenlernen oder sich die Mühe machen werden, ihr wahres Wesen oder das, was wirklich passiert ist, zu verstehen. Und das ist eine gefährliche Realität", schreibt Williams.
Sie kritisiert außerdem, dass das Verbrechen ihrer ehemaligen Freundin als glamouröser Akt inszeniert wird. Anna, die sich gegen den Kapitalismus zur Wehr setzt und Banken hinters Licht führt, könnte zur Inspiration werden für andere. Verbrechen als Karrieresprung: "Wenn Sie auf Ruhm aus sind, haben Sie sich eine 'Marke' aufgebaut, eine Plattform geschaffen und ein Publikum gefunden, das Sie für zukünftige Gelegenheiten nutzen können", kritisiert Williams.
Netflix mache in ihren Augen Gratis-PR für eine Verbrecherin, die ihre Marke so noch weiter ausbauen könnte. Für Williams passt die Faszination mit Sorokin mit dem allgemeinen Hype um True-Crime-Geschichten zusammen. Was die meisten eint: Ein Gedanke an die Opfer wird nur selten verschwendet. Vor allem nicht, wenn zu den Betrogenen Banken gehören.

Anna "Delvey" Sorokin hat zu viel Macht bekommen
"Menschen haben, genau wie Ideen, nur so viel Macht und Einfluss, wie wir ihnen geben. Ohne es zu merken, habe ich Anna enorme Macht und Einfluss auf mich gegeben – Macht und Einfluss, die ich dann jahrelang zurückgewinnen musste", schreibt sie und verbindet ihre Erkenntnis mit einer Sozialkritik und einer Botschaft an die Lesenden: "Ich habe begriffen, dass Ihre Aufmerksamkeit eine Investition ist. Wenn man jemandem seine Aufmerksamkeit schenkt, lässt man sich beeinflussen, ob man sich dessen in dem Moment bewusst ist oder nicht. Und besonders in diesem Zeitalter der ständigen Stimulation, in dem unzählige Menschen und Geschichten um Ihre Klicks, Likes, Followers und Zeit konkurrieren, hat Ihre Aufmerksamkeit einen Wert", analysiert Williams.
Heute sei sie durch ihre Erfahrungen stärker, doch gleichzeitig auch vorsichtiger geworden.
Quelle: "Time"-Magazin
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