Jedes Jahr erklärt Jörg Pilawa, in Zukunft werde es weniger Pilawa im Fernsehen geben. Im vergangenen Jahr hat er 230 Sendungen moderiert, viel mehr als Stefan Raab, Günther Jauch oder Johannes B. Kerner. Er hat, was noch erschreckender klingt, mehr Sendungen moderiert als Harald Schmidt, Reinhold Beckmann, Sabine Christiansen und Maybrit Illner zusammen. Für das laufende Jahr hat er den festen Vorsatz, etwa 10 bis 20 Sendungen weniger zu machen: "Das heißt, ich bin dann irgendwann eindeutig unter 200 Sendungen, und das ist im Vergleich zu einst 270 oder 280 Sendungen im Jahr schon eine Steigerung der Lebensqualität." Hiermit meint Pilawa die Steigerung seiner eigenen Lebensqualität, nicht die der Fernsehzuschauer.
Wie wir Jörg Pilawa wahrnehmen, hängt davon ab, wie wir fernsehen. Wer seinen Fernsehabend mit der Programmzeitschrift plant, wird, sofern er nicht Show- oder Quizfan ist, niemals in seinem Leben Jörg Pilawa sehen. Wer aber einfach mal schaut, was so läuft, der wird Jörg Pilawa immer und überall sehen; ja, irgendwann wird er das Gefühl haben, es gäbe im Fernsehen eigentlich niemand mehr außer Jörg Pilawa. Denn Jörg Pilawa, 41, moderiert, seit er 2001 von Sat 1 kam, in der ARD nicht nur dienstags bis freitags im Vorabendprogramm "Das Quiz mit Jörg Pilawa", sondern auch noch regelmäßig das "Star Quiz" und die "NDR-Talkshow". Und zusätzlich alles Mögliche: vom "Star-Biathlon" über den "Pisa-Test", "Ernährungstest", "Erziehungstest" und "Partnerschaftstest" bis zur großen Samstagabendshow "Frag doch mal die Maus".
"Ich find's nett, nett zu sein"
Fast alle diese Sendungen sind recht oder sehr erfolgreich: Wenn Pilawa routinemäßig ein "Star Quiz" am Donnerstagabend lenkt, schauen mehr Menschen zu, als wenn Florian Silbereisen mit größtmöglicher Medienbegleitung am Samstagabend "Am laufenden Band" reanimiert. Pilawas Frau Irina sagt, er habe einen Sprachfehler: Er könne nicht "Nein" sagen. Viele Menschen stört dieser Sprachfehler nicht, denn sie mögen Pilawa sehr, in Umfragen ist er oft der beliebteste Fernsehmoderator nach Günther Jauch und Thomas Gottschalk, die ewige Nummer drei unter den großen Fernsehjungs. Andererseits: Weil er so viel moderiert und weil er dies immer auf die gleiche freundliche, routinierte Art tut, finden ihn andere sehr glatt und langweilig. Pilawas Image besteht im Grunde nur aus endlosen Variationen des Attributs "nett" - von "der nette Herr Pilawa" ("Bild am Sonntag") bis "der große Blonde mit dem netten Lächeln" ("TZ"). Pilawa hat sich zu dieser Sachlage in der Talkshow seines Kollegen Reinhold Beckmann einmal abschließend geäußert, indem er feststellte: "Ich find's nett, nett zu sein." Aber "nett" heißt auch: langweilig, harmlos. "Bild"-Autor Franz Josef Wagner (die offene Hose unter Deutschlands Zeitungskolumnisten) hat ihn mal einen "anpasserischen, uninteressierten Menschen bar jeder Neugier" genannt.
"Das ist ein Phänomen, das mich begleitet, seit ich diesen Job mache: die Frage, wo sind denn jetzt seine Ecken, seine Kanten, was ist er denn eigentlich?", sagt Pilawa. "Aber was sollte mein Profil sein bei der Flut von Sendungen, die ich mache und gemacht habe? Als ich damals bei Sat 1 anfing, hieß es immer: Jetzt haben die Kai Pflaume in Blond. Als ich eine tägliche Talkshow bekam, hieß es: Oh, das soll wohl der neue Johannes B. Kerner sein. Als ich mit Abendmoderationen begann, hieß es: Da kommt der Gottschalk von morgen. Und so weiter, der neue Jauch, der neue dies, der neue das. Ich bin mit jedem Kollegen schon mal charmant verglichen worden, und heute sage ich: Was Besseres kann dir doch gar nicht passieren."
Pilawa ist der einzige sehr bekannte, sehr populäre Moderator ohne Mehrwert. "Das Besondere an ihm ist, dass an ihm nichts Besonderes ist", schrieb die "FAZ". Kein Wunder, dass er immer wieder festgelegt wird auf ein einziges Klischee. Über dieses Klischee sagt er: "Was die ewigen Attribute wie 'Sonnyboy' und 'Schwiegersohntyp' angeht: Zum Teil sind das einfach authentische Seiten von mir. Und zum Teil stehen diese Attribute vielleicht auch für etwas Unnahbares. Das heißt, sie erlauben mir eine gewisse Distanz, und die ist für mich wichtig. Da bin ich Egoist genug, um zu sagen: Das brauche ich für mich."
Er hinterlässt nicht einmal ein Vakuum
Wer Jörg Pilawa eine Weile bei der Arbeit beobachtet, stellt fest, dass er paradoxerweise, trotz seiner Allgegenwart, ein Meister im Verschwinden ist. Er hat eine ungewöhnliche Begabung, mittendrin zu sein und sich dennoch zu entziehen. Nach einer Aufzeichnung der "NDR-Talkshow" gibt es in einem schmucklosen Aufenthaltsraum für die Gäste der Sendung, ihre Begleitung und die Redaktion eine Art Aftershow-Party ohne Musik, mit Bier und Wein und warmem Essen. Jörg Pilawa, gemeinsam mit NDR-Moderatorin Julia Westlake der Gastgeber, spricht mit dem Redaktionsleiter, scherzt mit Schauspielern wie Robert Stadlober oder Jutta Speidel, redet ein paar Takte mit Schlagersängerin Michelle über Kindererziehung, empfiehlt der Komikerin Mirja Boes etwas vom Büfett - aber im Gegensatz zu allen anderen trägt er bereits seinen Mantel. In der einen Hand ein halb volles Bierglas, das nicht leerer werden wil, in der anderen ein paar Unterlagen für zu Hause. Er kreist vielleicht fünf Minuten durch den Raum, ist voll da, herzlich, zugewandt, lebhaft. In dem Moment aber, wo er gegangen ist, scheint es, als wäre er nie hier gewesen. Er hinterlässt nicht einmal ein Vakuum, so gut ist er darin, sich zu entziehen.
Pilawa geht früh, weil er gern früh nach Hause kommt. Er wohnt mit seiner Frau Irina und den Kindern Emmy und Juri in Bergedorf, einem ruhigen, unprätentiösen Stadtteil im Osten von Hamburg (er hat einen weiteren Sohn, Finn, aus seiner vorherigen Ehe). Und er geht früh, weil er so viel Abstand zur Medien- und Promi-Welt halten möchte, wie es in seiner Lage eben möglich ist. Er sagt: "Es gibt viele nette Kollegen, aber privat habe ich mich noch nie mit einem getroffen. Noch nie. Zwischen meinem Privatleben und meinem Beruf gibt es überhaupt keine Überschneidungen. Kann sein, dass ich mal eine SMS schreibe: Mensch, tolle Quote, super Sendung, aber das war’s dann auch." Pilawa hat in seiner Branche einen stetigen Aufstieg erlebt. Vom frühen und sehr erfolgreichen Privatsender "Radio Schleswig-Holstein" kam er mit Ende 20 zu Sat 1, war dort Nachrichtenredakteur bei "Ran" und moderierte das Sat-1-Regionalprogramm für den Norden. Bekannt wurde er durch seine tägliche Talkshow, die von 1998 bis 2000 auf Sat 1 lief.
Als "Wer wird Millionär?" mit Günther Jauch Ende der 1990er ein beispielloser Überraschungserfolg für RTL wurde, moderierte Pilawa erst einen Abklatsch auf Sat 1 und ging dann 2001 zur ARD, wo er die Idee für "Das Quiz mit Jörg Pilawa" mitentwickelte: Es spielt nicht ein Kandidat, sondern ein Kandidatenpaar; es sind Kollegen, Eheleute, Freunde. Vorteil: mehr Dynamik, weniger Aufregung bei den Kandidaten. Und: Der Moderator tritt viel mehr in den Hintergrund. Kandidaten, Saalpublikum und prominente Gäste behandelt Pilawa stets respektvoll und ohne jede Spur von Zynismus oder Sarkasmus. Die Frauen, die nach dem "Quiz" um Autogramme anstehen, sind ausschließlich aus seiner Kernzielgruppe Fünfzig aufwärts. Einige haben von über 1000 "Quiz"-Sendungen mehr als 500 live im Studio gesehen. Pilawa ist schlagfertig, wenn es um den klassischen erwartbaren Kalauer geht (Dieter Pfaff, im Gästeraum vorm "Star Quiz": "Wann wird denn das gesendet?" Pilawa: "Nie"). Außerdem ist er ein Mann, der tatsächlich mit einem Auge zwinkert, wenn er einen Scherz macht. Das wirkt erst irritierend, später, wenn man sich daran gewöhnt hat, anheimelnd. Und so arbeitet er: erwartbar, zuverlässig, anheimelnd, buchstäblich mit einem Augenzwinkern.
Der Porsche als Rückzugsraum
In seiner Garderobe, beim Hemdenwechsel zwischen zwei Sendungen, ist Pilawa weniger berechenbar. Bis wenige Sekunden vor seinem Auftritt springt er von einem Thema zum anderen. Also: Vor anderthalb Jahren war er im Sommerurlaub in Halifax in Kanada. Sonst fährt er immer nach Amrum, seine Mutter hat dort eine Ferienwohnung. Tür auf, Kinder raus, perfekt. Sechs Wochen. Immer. Aber dann zur Abwechslung mal zwei Wochen Halifax. In Halifax gibt es Stadtrundfahrten mit Amphibienfahrzeugen, das hat Pilawa sehr gefallen. Das könnte man doch in Hamburg auch machen, Stadt- und Hafenrundfahrt in einem. Seitdem bemüht Pilawa sich um die erforderlichen Genehmigungen, er kann detailliert berichten über die Antriebsarten von Amphibienfahrzeugen. Aber auch: Er produziert mit italienischen Kollegen einen Dokumentarfilm über die Roten Brigaden, das italienische Pendant der RAF. "Und wenn das dann bei 3Sat, Arte oder Phoenix laufen sollte, dann werde ich mir das garantiert mit einer schönen Flasche Wein anschauen und mich sehr darüber freuen." Small Talk, während ihm die Maskenbildnerin die Fingernägel poliert. Beim Wimperntuschen räsonniert er über Schwarz-Grün oder darüber, warum es in Deutschland keine Protestkultur mehr gibt. Außer Amphibienfahrzeugen gehören zu seinen fernsehfernen Interessen: das Geschäft "Herrensache" an der Alster in Hamburg, das er im vergangenen Jahr mit einem alten Freund seiner Frau und seinem Schneider eröffnet hat, um preiswerte Maßanzüge anzubieten. Und sein Porsche 356, Baujahr 1959, der früher der Familie Guggenheim gehört hat und jetzt, wenn Pilawa nach Berlin fährt, um einen Hausfrauenpreis zu verleihen, sein "letzter geschützter Rückzugsraum" ist.
Auf dem Monitor, der in die Garderobe überträgt, was im Studio passiert, scherzen derweil seine Anheizer, das Publikum solle gleich besonders heftig applaudieren für Pilawa, denn er habe sich heute zum ersten Mal selber die Schuhe zugebunden. Es bleibt der Eindruck, dass Pilawa Seiten hat, die er, sobald er hinaustritt vor dieses Publikum und die Kameras auf ihn gerichtet sind, mehr oder wenig er absichtlich unterdrückt. Der Amphibienfahrzeuge- und Rote-Brigaden-Pilawa ist dann weg, was bleibt, wenn die Kamera läuft, ist ein Pilawa, der sich selbst reduziert hat.
Raute an, Raute aus
Diese Reduktion geht bis in die Mimik. Pilawa hat im Fernsehen zwei Gesichtsausdrücke: keinen und die Raute. Entweder sein Gesicht ist auf abwartende Weise neutral, oder er lächelt. Und wenn er lächelt, formen zuerst die Linien um seinen Mund eine spitze, lebensbejahende Raute; im nächsten Augenblick aber sieht man, wie sein gesamtes Gesicht sich in eine Raute verwandelt, von den Stirnfalten bis hinunter zum Kinn. Das hat etwas ansteckend Fröhliches, aber auf Dauer ermüdetes auch. Wer lange Pilawa schaut, sieht irgendwann nur noch: Raute an, Raute aus. Es kann durchaus beruhigend wirken. Vor allem aber wirkt Pilawas reduzierte Arbeit verblüffend altmodisch: Im Grunde verbindet ihn mehr mit der unprätentiösen Art eines Wim Thoelke oder eines Hans Rosenthal als mit der Fernsehgegenwart. Pilawa hat gerade bei der ARD-Tochter Degeto bis 2010 unterschrieben. Danach will er etwas ändern, grundsätzlich. Er nennt es "meine Agenda 2010" und zwinkert dabei mit einem Auge. Er sagt: "Meine Frau hat von Anfang an gesagt, dass sie nicht die nächsten 20 Jahre zu Hause bleiben will . Wir haben darüber gesprochen, ob ich mir vorstellen kann, sie zu Hause abzulösen, wenn sie wieder arbeitet. Und ich kann es mir immer besser vorstellen. 2010 wäre ein guter Zeitpunkt, um vielleicht eine große Änderung vorzunehmen."
Und bis dahin? Raute an, Raute aus? Als nach Günther Jauchs Absage über die Nachfolge von Sabine Christiansen debattiert wurde, fiel nie der Name Pilawa. Wäre er nicht zumindest ganz gern mal gefragt worden? Schließlich kann er Talkshow, er hat Nachrichten moderiert, produziert Polit-Dokumentationen, hat Geschichte studiert und macht doch sonst bei der ARD alles. Nein, darauf fällt er nicht herein. Er sagt: "Mal ganz provokant gefragt: Warum um alles in der Welt möchte man am Sonntagabend eine wöchentliche Talkshow moderieren? Das kann überhaupt nicht mein Berufsziel sein, aus ganz praktischen Gründen: Der Sonntagabend ist mir heilig, da will ich meine Ruhe haben." Vor 15 Jahren hat der Freizeitforscher Horst Opaschowski den Begriff vom Fernsehen als "Nebenbei-Medium" geprägt. Opaschowski ist der Schwiegervater von Jörg Pilawa. 80 Prozent, sagt Pilawa, würden beim Fernsehen doch gar nicht hingucken. Und vor allem sein Quiz am Vorabend greife genau diese Stimmung auf: Man kommt nach Hause, zieht die Schuhe aus, begrüßt die Kinder, und im Hintergrund läuft halt der Pilawa.
Eigentlich guckt gar keiner
Später, in der Pause zwischen zwei Quiz-Aufzeichnungen, scherzt Pilawa, dass er manchmal bei der Rückkehr in die Garderobe feststelle: Seine Mitarbeiter haben auf dem Live-Monitor nicht Pilawas Moderation verfolgt, sondern die amerikanische Sitcom "King of Queens" auf Kabel Eins. Was er im Prinzip verstehen könne, das sei eine super Sendung, vielleicht die lustigste der Welt. Aber trotzdem! Seine Mitarbeiter wiederum weisen auf den postkartenkleinen Bildschirm hin, der, für die Kameras unsichtbar, am Frage- und Antwort-Monitor vor Pilawas "Star Quiz"-Stuhl befestigt ist. Da schaue der Chef während seiner eigenen Sendung manchmal Fußball, zumindest früher, als der HSV in der Champions League war. Ein merkwürdiger, aber auch tröstlicher Gedanke: Pilawa, seine Leute, die Zuschauer zu Hause - eigentlich guckt gar keiner. Wenn dies so wäre - dann hätte Pilawa die Kunst des Sich-Entziehens endgültig perfektioniert: allgegenwärtig, aber unsichtbar; mittendrin und nirgendwo zugleich.