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Bulgarien Heute muss ich mich verlieben – auf einem Brautmarkt der Roma

Romantisch? Auf einem Busparkplatz sollen die Kinder sich kennenlernen.
Romantisch? Auf einem Busparkplatz sollen die Kinder sich kennenlernen.
© Charlotte Schmitz
Vanya ist 19 Jahre alt und soll heiraten. Auf dem alljährlichen Hochzeitsmarkt der Roma in Bulgarien sucht sie einen Ehemann. Oder einen Ausweg.
Von Frederik Seeler

Die Liebe versteckt sich. Zwischen den Gleisen und der Fabrik mit den zerbrochenen Glasscheiben. Auf dem Parkplatz, wo Autos und Reisebusse so dicht beieinander stehen, dass sie sich fast berühren. Hier treffen sich die Roma, um ihre Kinder zu verheiraten. Vanya steht auf dem Asphalt und friert. Sie trägt eine Röhrenjeans, das schwarze Haar zum Zopf gebunden. Mädchen mit weiß gepuderten Gesichtern drängen an ihr vorbei. Aus Lautsprechern dröhnt ein Akkordeon. Die Luft riecht nach Diesel und Zuckerwatte. Vanya streift über den Platz. Niemand spricht mit ihr. Sie will nach Hause. Bloß weg von hier. Ein Junge kommt auf sie zu. Er schielt ein bisschen. Zweimal geht er an Vanya vorbei, dann bleibt er stehen. "Hallo. Wie heißt du?", fragt er. "Ich heiße Vanya", sagt sie. "Wollen wir ein Bild machen?", fragt er. Sie mustert sein blasses Gesicht und schaut zur Seite. "Vielleicht später", sagt sie leise.

Heute ist der Tag, an dem Vanya sich verlieben soll. Heute soll sie den Mann ­kennenlernen, dem sie Kinder schenkt, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringt. So sagt es ihr Vater. So sagt es die Tradition. In jedem Frühjahr kommen Roma aus ganz Bulgarien hier für einen Tag zusammen, um zu plaudern, Wein zu trinken und ihre ­Kinder zu verkuppeln.

Als ich das erste Mal von dem Hochzeitsmarkt höre, denke ich an Zwangs­heirat, an junge Mädchen, die für ein paar Hundert Euro und gegen ihren Willen ­verheiratet werden. Ich frage mich, warum so etwas in einem EU-Land nicht verboten wird. Deshalb bin ich nach Bulgarien geflogen. Drei Tage verbringe ich mit Vanya und ihrer Familie. Ich begleite sie zum Markt und lerne ein Mädchen kennen, das hin und her gerissen ist zwischen Liebe zu ihrer Familie und dem Wunsch nach Freiheit. Und am Ende mache ich alles nur noch schlimmer.

Das Haus besteht nur aus einem Wohnzimmer

Am Abend vor dem Markt sitze ich bei der Familie auf dem Sofa. Das Feuer im Ofen kämpft gegen die Winterkälte, die durch die Wand dringt. Mit den ­Eltern und zwei jüngeren Brüdern lebt Vanya am Rande eines Dorfes, in einer Siedlung, in der nur Roma leben. Sie sitzt mir gegenüber, den Blick ­gesenkt, und streichelt ihren Welpen. Ihr Haar hat die Farbe von Kohle, und das zarte Gesicht lässt sie noch jünger aus­sehen. Der Vater schenkt mir Bier ein, die Mutter bringt Nougat-Pralinen.

Das Haus besteht nur aus einem Wohnzimmer. Darin kochen sie, schauen Fernsehen, beten, schlafen nebeneinander auf dem Boden. Im Garten hat Vater einen Hühnerstall aus Holz gezimmert und eine Latrine gegraben. Davor parkt ein Mercedes-Bus, der älter ist als Vanya.

Das Haus besteht nur aus einem Wohnzimmer. Darin kochen sie, schauen Fernsehen, beten, schlafen nebeneinan­der auf dem Boden.
Das Haus besteht nur aus einem Wohnzimmer. Darin kochen sie, schauen Fernsehen, beten, schlafen nebeneinan­der auf dem Boden.
© Charlotte Schmitz

Eine lokale Hilfsorganisation hat den Kontakt zur Familie vermittelt. Wir brauchen eine Übersetzerin, weil niemand in der Familie Englisch spricht. Sie gehört zu den Kalderasch, einer Untergruppe der Roma. Die 18.000 Kalderasch im Land leben isoliert und heiraten traditionell nur untereinander. Vanya wird im Juni 20 Jahre alt. "Ein gutes Alter, um zu heiraten", sagt der ­Vater. Als Mutter das Geschirr wegräumt und Vater vor der Tür Zigaretten raucht, spreche ich Vanya an. "Freust du dich auf den Markt?" "Ja", sagt sie. "Bist du im richtigen Alter, um zu heiraten?" Sie schaut auf den Boden. Mutter kommt herein. Sie hat mitgehört. Sie sagt, dass sie schon mit 18 geheiratet hat. "Aus Liebe."

Wenn Vanya morgen jemanden trifft, wird der Junge sie besuchen, und wenn die beiden entscheiden, dass es Liebe ist, verhandeln die Väter bei Wodka über den Brautpreis. Vater sagt, wer Vanya heiratet, muss 10.000 oder 20.000 Euro bezahlen. Weil Vanya das schönste Mädchen im Viertel sei. Auch wenn natürlich kein Kalderasch so viel zahlen kann. Aber wenn sie sich bei der Hälfte einigen, feiern sie Hochzeit.

"Hauptsache nicht wie der letzte Typ"

Mutter sagt, Vanya soll jemanden finden, den sie liebt. Der Vater sagt, ­Vanya soll einen guten Christen finden, der Geld verdient und wenig trinkt. Der kleine Bruder sagt: "Hoffentlich findest du überhaupt einen Mann." Vanya gibt ihm einen Klaps auf den Kopf. Er grinst.

Cover der zweiten Ausgabe JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis
© Peter Rigaud

Ein Artikel aus ...

... JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Die zweite Ausgabe gibt es ab 26. April am Kiosk – oder hier.

"Hauptsache nicht wie der letzte Typ", sagt die Mutter. Ich frage: "Der letzte Typ?" Vanya fuchtelt mit dem Finger in der Luft, versucht, die Katastrophe zu verhindern. Die Mutter ignoriert die Scham ihrer Tochter und erzählt: Vergangenes Jahr hat Vanya auf Facebook einen Jungen kennengelernt. Einen Kalderasch. Eigentlich darf sie nur in die Stadt oder Leute treffen, wenn Brüder oder Cousins dabei sind. Facebook ist ihr Schlupfloch. Sie trafen sich heimlich im Nachbardorf. Vanya war verliebt. Sie brachte ihn mit nach Hause, ­damit die Eltern ihn kennenlernen können. Mutter kochte Fleischbällchen. Vater drückte dem Jungen die Hand, der drückte kräftig zurück. Vater mochte ihn. Auch wenn der Junge zu viel Wodka trank und ohne Pause Zigaretten rauchte. Vanya dachte, sie hätte ihren Traummann gefunden. Aber irgendwann antwortete er nicht mehr auf ihre Nachrichten. Sie rief ihn an, aber er nahm nicht ab. Vater sagt, der Typ wollte nur mit ihr spielen. Ein Cousin von ihm sagte, er wolle eine Bulgarin heiraten und keine stinkende Roma. Mutter sagt, sie soll ihn einfach vergessen. Als Vater sah, wie traurig ­seine Tochter war, kaufte er ihr den Welpen. Vanya sagt: "Ich möchte nicht mehr darüber reden."

Bulgaren nennen die Roma-Siedlung das Schlamm-Ghetto

Am nächsten Morgen fährt die Familie in die Stadt. Vanya braucht Schuhe für den Hochzeitsmarkt und einen Haarschnitt. Der alte Bus ruckelt über den schlammigen Feldweg. Holzkisten und Plastikflaschen liegen am Wegrand. Vater sitzt am Steuer, raucht Zigarette und grüßt die Männer, an denen sie vorbeifahren. Als Kesselflicker repariert Vater Kochtöpfe aus Kupfer, das alte Handwerk der Kalderasch, aber weil kaum noch jemand Kupferkessel benutzt, verlötet er Regenrinnen und sammelt Metallschrott. Im vergangenen Sommer stürzte er bei der Arbeit vom Dach und schlug mit dem Gesicht auf. Seine Vorderzähne fehlen.

Die Bulgaren auf der anderen Seite des Dorfes sagen, dass die Roma Parasiten seien, dass sie Wäsche stehlen und ihre Kinder verkaufen. Sie nennen die Roma-Siedlung das Schlamm-Ghetto, weil es hier keine asphaltierten Straßen gibt. Als Bulgarien 2007 der EU beitrat, stieß Vater mit den anderen Roma mit Bier an. Alle im Viertel dachten, dass bald neue Wasserleitungen in die Siedlung führen würden und der Strom nicht mehr ausfiele. Aber noch immer flackert das Licht, und das Wasser zum Duschen holen sie aus dem Fluss. Die Stadt Plovdiv ein paar Kilometer entfernt wird nächstes Jahr Europas Kulturhauptstadt sein. In der Siedlung aber blieb alles, wie es war.

"Ich liebe meine Familie. Ich bin keine Rebellin"

Vanya fährt auf dem Weg zum Markt mit der Fotografin und mir im Miet­wagen mit. Es ist die einzige Gelegenheit, offen reden zu können, ohne dass die Brüder oder Eltern mithören. Sie sitzt auf der Rückbank. Und tatsächlich fängt sie an, ihre Schüchternheit zu überwinden. Wir hören Taylor Swift im Radio. Sie fragt, wie das Leben in Deutschland sei. Wir adden uns auf Facebook, und sie zeigt uns Bilder von ihren Freundinnen. Die Fotografin dreht sich zu ihr und fragt: "Hast du schon mal einen Jungen geküsst?" Vanya erstarrt, schaut zu mir herüber.

Die Fotografin versteht sofort. "Halt dir die Ohren zu", sagt sie zu mir. Ich gehorche und presse mir die Hände gegen die Ohren. Vanya erzählt, aber ich höre nicht, was sie sagt. Später frage ich sie: "Was würdest du gerne arbeiten?" "Kinderärztin", sagt sie, "aber ich habe nur die achte Klasse abgeschlossen. Länger sollen Kalderasch-Mädchen nicht zur Schule gehen." Ihre Noten waren schlecht, sagt sie. Die Bibel ist das einzige Buch, das die Familie liest. Aber sie sei fleißig gewesen. Die bulgarische Schulleiterin bemerkte ihren Eifer und be­gleitete sie nach der Schule ins Roma-Viertel. Sie sprach mit den Eltern. Danach fragte der Vater, ob Vanya sich vorstellen könnte, noch weiter zur Schule zu gehen. Sie umarmte ihn vor Freude. Jetzt schaut sie aus dem Fenster und sagt: "Ich darf nur zur Schule, wenn mein zukünf­tiger Mann nichts dagegen hat."

Kinder statt Kinderärztin

Realistisch heißt das für sie: Kinder statt Kinderärztin. Ich sage: "Du solltest nur einen Mann akzeptieren, der dich stu­dieren lässt." Vanya nickt. Ich frage: ­"Würdest du zum Hochzeitsmarkt gehen, wenn du nicht müsstest?" "Nein", antwortet sie. "Sollen wir umdrehen und dich nach Hause bringen?" Sie lacht. Dann sagt sie sehr ernst: "Ich liebe meine Familie. Ich bin keine Rebellin." Wir erreichen den Markt. Der Schornstein der alten Eisenbahnfabrik ragt in den Himmel. Ein großer, staubiger Parkplatz. Autos dicht an dicht, ein Diesel­generator bläst Ruß in die Luft. Eine Frau verkauft Liebesäpfel und Kebab an ihrem Stand. Auf dem Dach eines roten Nissan tanzen ein Mann und seine Verlobte. Das Dach wölbt sich bedrohlich. Mädchen und Jungen drängen über den Asphalt. Die Eltern stehen am Rand, plaudern, tun so, als würden sie ihre Kinder nicht beobachten.

Vanya steigt aus dem Auto. Sie schaut sich um. Einige Meter weiter laufen zwei Mädchen Hand in Hand über den Asphalt. Sie tragen Jeans, und die Wangen sind weiß gepudert. Weiße Haut gilt als schön. Drei Jungs gehen auf sie zu, alle in Lederjacke und mit Goldkettchen. Hallo, wie geht’s? Mit wem seid ihr hier? Schön seht ihr aus. Habt ihr Facebook? Sie ­machen ein Bild zusammen. Das erste Zeichen dafür, dass man sich versteht, dass man sich am Abend vielleicht Nachrichten schickt.

"Mein Traummann würde nie zu so einem Markt gehen"

Vanya guckt auf den Boden. Ihr ist kalt, sie mag nicht herumgehen. Mutter kommt und sagt, sie solle sich amüsieren. Jungen und Mädchen sammeln sich in der Mitte des Platzes für den traditionellen Volkstanz. Sie haken die Arme ein und tanzen im Kreis über den Asphalt, zwei Schritte nach links, vier nach rechts. Vanya hat keine Lust zu tanzen. Sie sagt: "Das ist langweilig." Dann kommt der Junge auf sie zu. Blick Richtung Boden. Ein Foto? Vanya schaut umher, als könnte ihr irgendwer aus der Situation heraushelfen. "Vielleicht später." Sie dreht sich weg. Mutter kommt auf sie zu. "Wer war der Junge?" Vanya sagt: "Ich will nach Hause. Mein Traummann würde nie zu so einem Markt gehen." Vater zündet sich eine Zigarette an. Dann holt er das Auto.

Am nächsten Morgen fahren wir ein letztes Mal zu dem Haus der Familie. ­Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Die Schlaglöcher auf dem Feldweg füllen sich mit Matsch. Die Familie sitzt um den Ofen. Alle sehen müde aus. Ich gehe mit dem Vater vor die Tür, wir trinken Chai und rauchen schweigend. Als er im Haus verschwindet, kommt Vanya heraus. Ihre Augen sind feucht. Sie möchte mir etwas sagen. Sie tippt die Sätze in ihr Handy, Google Translator übersetzt in Fragmenten. Sie hat nachgedacht in der Nacht. Sie will ihr Leben selbst bestimmen. Sie will weiter zur Schule gehen, vielleicht sogar reisen. Aber wegrennen will sie auch nicht, wo soll sie denn hin? Ich weiß nicht genau, was ich ihr antworten soll. Aber sie tippt schon weiter.

Am Morgen kam Vater zu ihr. Er ­fragte: "Was hältst du davon, wenn wir noch ein oder zwei Jahre warten mit dem ­Heiraten?" Sie strahlt, als sie schreibt: "Im Sommer beginnt die neunte Klasse." Dann tippt sie einen letzten Satz ins ­Handy: "Warum gehst du?" Ich blicke sie an. Wir schweigen. Ich fühle mich schrecklich. Ich bin für drei Tage in ihre Welt eingedrungen. Und jetzt hauen wir einfach wieder ab.

Zum Abschluss ein Selfie mit dem Reporter
Zum Abschluss ein Selfie mit dem Reporter

Ich tippe in mein Handy "Es war schön, dich kennenzulernen." Sie hält den Daumen hoch. Vater kommt aus dem Haus. Die Familie fährt zur Sonntagsmesse. Es schneit jetzt heftiger. ­Vanya und ich machen ein Bild zu­sammen. Die Brüder springen ins Auto. ­"Beeil dich, Vanya!" Einen Moment lang wirkt sie wie gefroren. Dann steigt sie in den Bus.

Diese Geschichte stammt aus der aktuellen Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu finden auch hier.

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