Nein, Siegfried, der "Meister der Illusion", hat keine Zweifel. Montecore hat Roy nicht angegriffen. "Hätte der Tiger Roy töten wollen, hätte er ganz anders zugebissen. Ich bin mir sicher. Ich stand hinter der Bühne und habe es gesehen."
Wie um das Gesagte zu unterstreichen, steht er auf und zeigt noch einmal, was sich an jenem Abend des 3. Oktober vor seinen Augen abspielte. Er macht zwei Schritte und deutet einen Sturz an. Berichtet vom Sicherheitspersonal, das auf die Bühne rannte und herumbrüllte, weil es Roy in Gefahr wähnte. Wie Montecore Roy am Nacken packte und ruhig hinter die Kulissen ging, denselben Weg wie jeden Abend. "Er verhält sich nicht aggressiv oder gewalttätig. Er ist verwirrt, weil Roy zum ersten Mal in Tausenden von gemeinsamen Auftritten gestürzt war. Er will ihn beschützen", sagt Siegfried und sinkt erschöpft in seinen Stuhl. Ob seine Vermutung stimmt, dass ein Schlaganfall Auslöser der Tragödie war, wissen, wenn überhaupt, nur Roys Ärzte. Und die haben sich aufgrund ihrer Schweigepflicht bisher nicht geäußert.
Der Weltstar, dessen Welt auf den Kopf gestellt wurde
Wir sitzen in einem Hotel in Los Angeles, in unmittelbarer Nähe der Klinik, in der Roy Uwe Ludwig Horn, genannt Roy, zur selben Zeit versucht, nach nun insgesamt vier Schlaganfällen wieder Herr über seinen Körper zu werden. Siegfried nimmt die Sonnenbrille ab. Seine tiefblauen Augen strahlen eine Wärme und Bedürftigkeit aus, die bei Auftritten vor TV-Kameras gänzlich verloren geht. Das Showman-Lächeln ist verschwunden.
Da sitzt nicht mehr der Weltstar, da sitzt Siegfried Fischbacher, 64, aus Rosenheim. Ein Mann, dessen Leben von einer Sekunde auf die andere auf den Kopf gestellt wurde. Der seine Arbeit verlor, die ihm mehr bedeutete als alles andere. Dessen Partner, mit dem er 44 Jahre gemeinsam auftrat und bis vor fünf Jahren zusammenlebte, schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Er ist verwirrt, verängstigt, schwankt zwischen Hoffen und Bangen, Zweifel und Euphorie.
"Dann wäre Roys Leben for nothing"
Die Nachrichten aus dem Krankenhaus sind seit Tagen gut, das bestätigen die wenigen Besucher, die Zugang zu Roy haben, wie der Hotelmogul Steve Wynn, der die beiden Zauberer einst mit einem Rekordvertrag für sein "Mirage"-Hotel in Las Vegas verpflichtete. "Seine Rehabilitation macht Fortschritte", sagt Wynn.
Weihnachten werde Roy zu Hause feiern können, meint Siegfried, auch wenn kein Arzt eine Prognose wagt, ob er je wieder ganz gesund wird. Er könne schreiben, lerne wieder sprechen. Derweil martert sich Siegfried mit Fragen zu dem, was da am 3. Oktober passierte. Und wenn der Tiger Roy doch angegriffen hat? "Dann", sagt er, "wäre Roys Leben for nothing. Alles, woran er geglaubt hat, wäre falsch gewesen."
Tierschützer - oder -quäler?
In dem Fall hätten jene Experten Recht, die vermuten, dass für einige Sekunden der Instinkt des wilden Tieres über die Erfahrung der geliebten Großkatze siegte. Sekunden, in denen nicht zählte, dass Roy bei der Geburt Montecores vor acht Jahren die Hebamme war, dass er ihn vom ersten Tag an mit der Flasche fütterte und das Bett mit ihm teilte. Die Frage, was mit dem Tiger los war, führt unweigerlich ins Herz der Welt von Siegfried und Roy. Eine Welt, in der sich Tatsachen und Träume, Wünsche und Wirklichkeit, Fakten und Fantasien nach fast 50 Jahren untrennbar verwoben haben. Sind sie Tierschützer - oder -quäler? Sind sie die Meister der Illusion - oder Opfer ihrer eigenen? Kann die Liebe, ob zu einem Menschen oder Tier, wenn sie nur stark genug ist, die destruktiven Kräfte der Natur besiegen?
"Davon war Roy fest überzeugt", sagt Penn Jillette, ein Las-Vegas-Showstar und Freund der Zauberer. "Er hatte ein einmaliges Verhältnis zu seinen Tieren. Dompteure wollen Kontrolle über die Biester haben. Sie arbeiten mit Peitsche und Gebrüll und drohen in einem fort. Roys Stil war das Gegenteil: Ich liebe diese Tiere so sehr, sie werden tun, was immer ich verlange."
"Tiere sind die große Liebe meines Lebens"
Die weißen Tiger und Löwen waren die Markenzeichen des Zauberduos - und weit mehr für Roy. "Tiere sind die große Liebe meines Lebens", schreibt er in seinen Memoiren. Er wurde 1944 in Nordenham geboren, sein erster, bester Freund war ein Hund. Bei dem fand er Trost, wenn zu Hause der alkoholkranke Stiefvater die Mutter prügelte; das Tier beschützte ihn vor dem gewalttätigen Mann. Als Jugendlicher hatte er einen Geparden zum Vertrauten. Roy verbrachte jede freie Minute in dessen Gehege im Bremer Zoo, führte ihn an der Leine spazieren. Tiere gaben ihm, was ihm die Familie nicht geben konnte: "Mein Sicherheitsgefühl und die Gewissheit bedingungslosen Vertrauens. Sie akzeptieren mich stets als das, was ich bin: ob arm oder reich, dick oder dünn, klug oder dumm."
Gepard statt Kaninchen - das Publikum tobte
Der Gepard stand schließlich am Beginn seiner Karriere und der Beziehung zu Siegfried. Roy arbeitete schon als 13-Jähriger als Page auf dem Ozeandampfer "Bremen". Der fünf Jahre ältere Siegfried war Steward und unterhielt die Reisenden mit Zaubertricks. Auf Vorschlag von Roy ließ er eines Abends statt eines Kaninchens den Geparden, den Roy mit an Bord geschmuggelt hatte, verschwinden. Das Publikum tobte vor Begeisterung. Seitdem gehören exotische Tiere zur Show.
Aus einem Geparden wurden zwei, es kamen Panter, Leoparden, Löwen und Tiger hinzu. Bis zum 3. Oktober lebte Roy mit einem Teil seiner 63 Wildkatzen im "Dschungelpalast", einer Villa mit mehreren Hektar Park bei Las Vegas. Die meisten der Tiere kennt er seit ihrer Geburt, spielte und tobte mit ihnen wie andere mit ihren Hunden. Trotzdem war es auf und hinter der Bühne immer wieder zu dramatischen Zwischenfällen gekommen.
Nicht der erste Zwischenfall
Vor Jahren reizte Siegfried einen Löwen während einer Show so sehr, dass der ihm ein großes Stück aus dem Unterarm biss. Bei Filmaufnahmen sprang ein vom Scheinwerferlicht irritierter Tiger ins - aus Komparsen bestehende - Publikum; niemand wurde verletzt. Einmal begrub eine Tigerin Roy unter sich: "Ich sah etwas in ihren Augen aufblitzen und wusste, dass sie nicht mehr spielte, sondern zubeißen würde." Roy kam ihr zuvor und biss ihr, so fest er konnte, in die Nase. Das verblüffte die Tigerin so sehr, dass sie aufsprang. "Sie versuchte nie wieder, mich zu beißen."
Angst hatte er nicht
Angst, so Roy, hatte er auch da nicht. Und Angst sollten auch die Tiere nicht vor ihm haben: Er dressierte sie nicht, sie mussten weder Männchen machen noch durch Reifen springen, sie waren nur durch ihre Präsenz Teil der Show. Obgleich Siegfried und Roy Zoos und Artenschutzprogramme in Afrika, Amerika und Asien jährlich mit Millionen Dollar unterstützen, kritisieren Tierschützer sie seit Jahren wegen ihrer Tierhaltung und der Auftritte.
"Vielleicht verstehst du nach diesem schrecklichen Zwischenfall, dass eine grell erleuchtete Bühne mit lauter Musik und einem schreienden Publikum nicht der natürliche Lebensraum für Tiger und andere exotische Tiere ist", schrieb Dan Mathews, Vizepräsident von Peta, der größten amerikanischen Tierschutzorganisation, in seinen Genesungswünschen an den Magier. Seit dem Unglück ermittelt das zuständige US-Landwirtschaftsministerium, ob Roy Sicherheitsbestimmungen oder Vorschriften zur Tierhaltung missachtet hat.
Wirtschaftlich weiter erfolgreich
Doch Kritik hat das Publikum weder vor noch nach dem Unfall beeindruckt. "Siegfried und Roy's Secret Garden", eine Art Privatzoo mit den Tieren aus der Show, ist besser besucht denn je. Die Warteschlangen sind bereits eine halbe Stunde vor Öffnung über 50 Meter lang, trotz eines Eintrittspreises von zwölf Dollar. Der Handel mit Souvenirs boomt. An jeder Ecke des "Mirage" gibt es Stofftiger, Videos, Bücher, Schlüsselanhänger, T-Shirts und Unterhosen bedruckt mit weißen Tigern oder dem Konterfei von Siegfried und Roy.
Allein mit Merchandising setzen sie im Jahr mehr als hundert Millionen Dollar um, mehr als der Rest der Hotels und Entertainer zusammen. Das US-Magazin "Forbes" führte sie 2003 auf Platz zwölf seiner Rangliste der am besten verdienenden Film- und Showstars - geschätztes Jahreseinkommen rund 52 Millionen Dollar, geschätztes Vermögen mehrere hundert Millionen. Mehr noch: "S & R" wurden zum Symbol für den Aufstieg von Las Vegas und zu einer der größten Touristenattraktionen der USA.
Neuerfindung des Showbusiness
Mit ihrer Show, die am 1. Februar 1990 im "Mirage" eröffnete, erfanden sie das Showbusiness im Spielerparadies neu. Damals bestand die Abendunterhaltung aus zweitklassigen Entertainern, die in heruntergekommenen Hotels vor betrunkenen Handelsvertretern auftraten. Die Produktion der "S & R"-Show dagegen kostete über 50 Millionen Dollar. Aus London und New York kamen die besten Choreografen, Bühnenbildner und Kostümdesigner. Michael Jackson schrieb und sang den Titelsong. Das Spektakel - eine Mischung aus Broadway, Magie und großer Oper - zog eine halbe Million Zuschauer im Jahr an; Familien mit Kindern, junge Paare im Kurzurlaub.
Boom für Las Vegas
Plötzlich war es wieder schick, in die Stadt der Sünde zu reisen. Die Zahl der jährlichen Las-Vegas-Besucher hat sich seit Beginn der Raubtier-Nummer von 18 auf 36 Millionen verdoppelt, die der Hotelzimmer stieg von 60000 auf 130000. Das Ende der Show bedeutet allein für das "Mirage" einen Einnahmeausfall von über einer Million Dollar pro Woche, nach ersten Schätzungen von Finanzexperten verliert die Stadt dadurch insgesamt über 200 Millionen Dollar im Jahr. In ihrer Wahlheimat sagt niemand ein böses Wort über die beiden. Nicht mal hinter vorgehaltener Hand und anonym. Stattdessen erzählen Tänzer, die mit ihnen gearbeitet haben, wie die Magier das Salär der Truppe aus eigener Tasche beglichen, als die Show einmal für drei Wochen wegen einer Grippe Siegfrieds pausierte.
"Wie nach dem 11. September"
"Das Erstaunlichste an den beiden ist, dass sie trotz ihres Ruhms so verdammt liebenswert sind", sagt Mike Weatherford, ansonsten scharfzüngiger Kolumnist des "Las Vegas Review Journal". Nach dem Unfall versuchten mehrere Journalisten der Lokalpresse und auch von der "New York Times" und der "Washington Post", hinter den Kulissen des "S & R"-Imperiums zu recherchieren. Gab es nicht doch Beispiele für Tierquälerei? Intrigen? Geheim gehaltene Tigerangriffe auf Wärter oder gar Siegfried und Roy? Doch die Journalisten konnten nichts Neues berichten.
Stattdessen erleben die Meister des Hokuspokus seit dem 3. Oktober immense Anteilnahme. Vor dem schmiedeeisernen Tor des "Dschungelpalasts" stehen Kerzen, liegen Blumen, Teddys und Stofftiger, am Gitter kleben Briefe aus aller Welt. Autos rollen langsam vorbei, Touristen zücken ihre Kameras. Eine Besucherin, die schon über 30-mal in der Show war, sagt: "Ich fühlte mich wie nach dem 11. September, als ich hörte, was Roy zugestoßen war. Es war, als wäre jemandem in meiner Familie etwas passiert."
"Sie leben den amerikanischen Traum
Denn für ihre Fans sind Siegfried und Roy viel mehr als geniale Zauberer. "Sie leben den amerikanischen Traum", bescheinigte der ehemalige US-Präsident Bush Senior den beiden einmal. Sie sind der lebende Beweis, dass es jeder schaffen kann. Sie haben sich nicht unterkriegen lassen. Nicht von alkoholkranken Vätern und von Müttern, denen die Liebe fehlte. Nicht von einer im Krieg zerstörten Heimat, nicht von Lehrern, die ihnen nichts zutrauten.
"Die Tragödie ist nicht das Ende", sagt Siegfried und schaut seinen Gast ruhig und bestimmt an. "Auch wenn es die Show, wie wir sie kennen, nicht mehr gibt. Wir werden etwas machen." Er klingt erleichtert, wie jemand, der vom Schlimmsten gerade noch verschont geblieben ist. Roy lebt. Roy wird nach Las Vegas zurückkehren. Bei ihm sein. Alles andere ist jetzt nicht so wichtig. Selbst die Vorstellung, dass sein Partner im Rollstuhl bleiben könnte, erschreckt ihn nicht. "Vielleicht machen wir dann etwas, das als Inspiration dient, so wie Christopher Reeve."
Das Wichtigste im Leben gefunden
In den Souvenirläden des "Mirage" läuft ein Video, in dem Siegfried mit Cowboyhut seine märchenhafte Karriere beschreibt; er glaube, sagt er, nicht an Zufälle. Darauf angesprochen, verfällt Siegfried zunächst in Schweigen. "Auch dieses Unglück hat eine Bedeutung", sagt er dann und erzählt von seinen Problemen in den vergangenen Jahren. Von der Einsamkeit, die ihn nach den Auftritten überfiel. Von Depressionen, aus denen ihn anfangs die Begeisterung des Publikums befreien konnte, später half auch das nicht mehr. "Seit dem Unfall ist das vorbei. Ich habe erfahren, was mir das Wichtigste ist im Leben. Nicht die Bühne. Nicht der Jubel. Es ist das Gefühl, Roys Hand in meiner zu halten. Sein Lächeln, wenn er mich sieht."