WAS MACHT EIGENTLICH Willy Claes

Der Politiker trat 1995 von seinem Posten als Nato-Generalsekretär zurück, weil er während seiner Zeit als belgischer Wirtschaftsminister in einen Bestechungsskandal verwickelt war.

Der Belgier erfüllte sich nach seinem Rückzug aus der Politik den alten Wunsch, Berufsmusiker zu werden, und gilt heute als exzellenter Pianist. Er lebt mit seiner Frau in Hasselt und hat zwei Kinder. Claes war Vorsitzender der flämischen Sozialisten, arbeitete in verschiedenen Regierungen als Erziehungs-, Außen- und Wirtschaftsminister und wurde 1994 Nato-Generalsekretär. Im Oktober 1995 trat er zurück, weil er als Wirtschaftsminister in den späten Achtzigern in eine Schmiergeldaffäre um die Beschaffung und Modernisierung von Armeehubschraubern und Kampfflugzeugen verwickelt war. 1998 wurde er zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.Herr Claes, wo waren Sie am Dienstag, dem elften, um Viertel vor drei?

Ich kehrte mit meiner Tochter, die flämische Abgeordnete ist, aus einem Fernsehstudio zurück, wo sie interviewt worden war. Im Autoradio wurde das Programm für die unfassbare Nachricht unterbrochen. Eine halbe Stunde später ging ich selbst auf Sendung mit meinem ersten Kommentar.

Hatten Sie diesen Ernstfall je erwartet?

Ganz unvorbereitet war ich nicht. Als Generalsekretär der Nato hatte ich bereits vor solchen Wahnsinnsattacken gewarnt und für Gegenmaßnahmen plädiert.

Auf Gegenliebe sind Sie dabei nicht gestoßen.

Als ich, lange nach dem Fall der Mauer, Generalsekretär wurde, war die Nato noch immer auf Varianten der klassischen Kriegsführung fixiert. Nach Analyse aller Notszenarien stellte ich fest, dass Pläne zur Bekämpfung des Extremterrors nicht existierten.

Haben Sie den Bündniskurs umgelenkt?

So schnell geht das nicht. In einem Gespräch mit der »Süddeutschen Zeitung« äußerte ich mich erst mal vorsichtig über diese Lücke in der Strategie. Ich erwähnte die Gefahren des »Fundamentalismus«. Ein Gedankenanstoß zur Neuorientierung.

Dieses eine Wort bereitete Ihnen dann große Schwierigkeiten?

Stimmt. Vor allem die britische Diplomatie fiel über mich her. Sie sah diese Kurzanalyse als einen Affront der Nato gegen die arabische Welt. Man befürchtete Rache der Diktaturen dort. Dabei hatte ich die Bezeichnung »Islam« sorgfältig vermieden.

Verfügten Sie über konkrete Signale?

Mein Gott. Zig Politiker und Wissenschaftler, Journalisten hatten inzwischen auf die schleichenden Gefahren des Islam-Terrors hingewiesen. Man musste kein Genie sein, das zu sehen. Bei der Nato jedoch passierte nichts.

Sie standen allein?

Damals schon. Nur ein Jahr später zeigten meine Ansichten Wirkung. Präsident Clinton präsentierte Mitte 1996 auf dem G-7-Gipfel in Lyon einen Maßnahmenkatalog gegen den internationalen Terrorismus. Es hätte meiner sein können. Amerika forderte mehr Kontrolle, mehr Sicherheit.

Was geschah damit?

Frankreich, aber auch Deutschland, fegte das Vorhaben vom Tisch. Frankreichs Außenminister de Charette erklärte, Amerika suche lediglich einen Vorwand für einen Handelskrieg mit den Arabern.

Wie ist es, im Nachhinein Recht zu haben?

Da kommt keine große Freude auf.

Als Minister in Belgien waren Sie in einen Bestechungsskandal verwickelt. Darum traten Sie als Generalsekretär der Nato zurück. Wie sah Ihr Leben danach aus?

Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch. Mein Innerstes wurde erschüttert. Erst jetzt kann ich gestehen, dass ich mich einsam und ungerecht behandelt fühlte. Es war wie eine Hinrichtung.

Wie haben Sie dieses Gefühl bekämpft?

Zuerst gab ich Vorlesungen an Unis in den USA. Außerdem schrieb ich mir, als eine Art Therapie, ein Buch über die Politik im neuen Jahrhundert von der Seele. Ein Kapitel handelt von den Gefahren des Islam-Terrors. Es bestätigt verblüffend genau, was jetzt leider passiert ist.

Sie suchten bewusst eine Wende in eine andere Richtung?

Meine Familie forderte mich heraus, eine alte Liebe wieder zu entdecken, das Klavierspielen. Früher wollte ich gern Berufsmusiker werden. Das bin ich nun.

Die Politik reizt Sie nicht mehr?

Das Kapitel ist definitiv abgeschlossen.

Interview: Albert Eikenaar

Foto: Peter-Vincent Schuld/Schuld

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