Sie hießen Lisa, Leonie oder Jessica, waren zehn, mal zwölf oder 14 Jahre alt. Sie alle haben sich auf einen anfangs harmlosen Internet-Chat mit dem wesentlich älteren Studenten Eugen S. eingelassen. Doch aus dem lockeren Geplaudere im Web wurde schnell bitterer Ernst. Dutzende junge Mädchen hat Eugen S. mit perfiden Methoden dazu gezwungen, sich vor ihrem Computer auszuziehen, ihm Nacktbilder zu schicken oder ihm per Webcam beim Onanieren zuzuschauen. Unter anderem wegen sexuellem Missbrauchs, Nötigung und Besitz von Kinderpornographie musste sich der heute 25-Jährige nun vor Gericht verantworten.
Die Hände in Handschellen wird Eugen S. von zwei Wachtmeistern in den fast leeren, schmucklosen Gerichtssaal am Landgericht Kempten geführt. Der kleine blonde Mann mit den großen Geheimratsecken sieht älter aus als 25. Er setzt sich auf die Anklagebank, noch sind weder seine Verteidiger noch Richter oder Staatsanwälte da. Nur eine Gruppe von Schülern sitzt auf den Zuschauerplätzen. Eugen S. ist viele Minuten lang ihren Blicken ausgeliefert. Er kann nicht weg, blickt auf den Boden, vergräbt sein blasses Gesicht in den Händen. Die jungen Leute, darunter auch mehrere Mädchen, sind zwischen 16 und 18. Nur wenig älter als seine bevorzugten Opfer.
Schwierigkeiten mit Frauen gleichen Alters
Eugen S. ist im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern aus Russland nach Baden-Württemberg gezogen. Trotz anfänglicher sprachlicher Probleme schaffte der Junge den Sprung aufs Gymnasium, fing 2009 ein Ingenieursstudium in Stuttgart an. Eugen S. fand dort zwar ein paar Freunde, es fiel ihm aber - wie der Gutachter im Prozess feststellt - schwer, Kontakt mit Frauen gleichen Alters aufzunehmen. Also versuchte er es im Internet. Spätestens ab November 2011 war ihm dort jedes Mittel recht, um sich sexuell zu befriedigen.
Seine Methode war immer dieselbe. Mit wechselnden Identitäten, mal nannte er sich Christian, mal Jan, sprach er Mädchen an, meist im Chat-Room von MSN. Er suchte sich vor allem jene aus, die bereits in ihrem Profil angaben, jung zu sein. Bei denen, so wird sein Verteidiger im Prozess sagen, habe sich Eugen S. ganz einfach die größten Chancen ausgerechnet. "Die waren manipulierbar."
Und tatsächlich: Hatte der Student die Mädchen erst mal dazu überredet, mit ihm zu chatten, waren sie in seine Falle getappt. Dann kam er schnell zur Sache. Er stellte intime Fragen und berichtete über die Größe seines Geschlechtsteils. Dann verlangte er von den Mädchen, ihm per Webcam bei der Selbstbefriedigung zuzuschauen und sich selber nackt zu präsentieren. "Ich mach's mir gerade, magst zuschauen" schrieb er dann zum Beispiel.
Erpressung mit Nacktfotos
Manche Mädchen gingen zunächst auf seine Forderungen ein, schickten Bilder, gaben intime Details preis. Dann aber weigerten sie sich früher oder später, weiter bei den perversen Spielchen mitzumachen. Andere blockten sofort ab. Aber Eugen S. ließ sich davon nicht beeindrucken, er ließ nicht von seinen Opfern ab. Er fing an zu drohen und nutzte dabei die Möglichkeiten des Web 2.0 aus. Schließlich hatte er in allen Fällen bereits Details wie Namen oder Wohnort der Opfer herausbekommen. So war es für ihn ein leichtes, über die sozialen Netzwerke Bekannte der Mädchen zu recherchieren. Mit diesem Wissen bewaffnet, kündigte er seinen Gesprächspartnerinnen an, den bisherigen Chatverlauf oder gar die intimen Bilder über das Internet an den Freundeskreis zu verbreiten. Auch drohte er, er würde die Fotos ausdrucken und an den Schulen der Mädchen verteilen. Nutzte das alles nichts, stieß er sogar Morddrohungen gegen die Eltern der Kinder aus. Eugen S. schaffte es so immer wieder, dass die Mädchen ihm zuschauten. Taten sie es nicht, machte er seine Drohungen in machen Fällen wahr und verschickte Bilder oder veröffentlichte sie gleich selber auf den Facebook-Pinnwänden der Opfer. "Viel Spaß in der Schule" schrieb er einmal hämisch hinterher.
Eugen S. zeigte keinerlei Mitleid. Es ließ ihn kalt, wenn die Mädchen ihm mehrfach mitteilten, dass sie noch Kinder seien. Er ignorierte sogar die flehentlichen Appelle eines Mädchens, doch bitte aufzuhören und ihre Nacktbilder zu löschen, sie begehe sonst Selbstmord. "Willst du, dass ich sterbe?", fragte ein anderes. Er: "Mir egal." Erst die Anzeige eines Opfers im Sommer 2012 und die anschließende Festnahme setzte dem Treiben ein Ende. Insgesamt 70 Fälle hat die Staatsanwaltschaft nun angeklagt.
Experten warnen seit Jahren vor dem "Cyber Grooming"
Die Erkenntnis, dass im Internet vor allem für junge Menschen Gefahren lauern, ist keineswegs neu. Seit vielen Jahren warnen Experten insbesondere vor dem sogenannten "Cyber Grooming", also der Anmache im Netz. Großes Aufsehen sorgte die Sendereihe "Tatort Internet" auf RTL2 im Jahr 2010, bei der die Täter vor laufender Kamera vorgeführt wurden und in der unter anderem die Gattin von Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg auf das Risiko in Chats und sozialen Netzwerken hinwies.
Doch trotz all der Warnungen und Kampagnen finden gerissene Cyber-Kriminelle wie Eugen S. immer wieder neue junge Opfer. Studien zum Chatverhalten von Schülern haben ergeben, dass rund ein Drittel der Befragten unter 14 Jahren bereits ungewollt sexuell angesprochen wurden. Die Psychologin Julia von Weiler, Geschäftsführerin von "Innocence in Danger", einer Organisation, die sich insbesondere im Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet engagiert, weiß warum: "Immer mehr Menschen entdecken die sozialen Netzwerke für sich, natürlich vor allem immer mehr junge Leute. Und die Kinder die sich dort aufhalten, werden immer jünger." Dies wissen natürlich auch Leute wie Eugen S. "Für solche Typen ist das Internet ein großartiges Medium", sagt von Weiler. "Denn im realen Leben hätte der noch niemals so viele Mädchen ansprechen können."
Dreieinhalb Jahre Haft für Eugen S.
Eugen S. ist seit seiner Festnahme umfassend geständig und sagt auch im Prozess aus. Allerdings verhindern der ungeduldig fragende Richter und ein sehr knappes psychologisches Gutachten, dass man wirklich etwas über ihn und seine Beweggründe erfährt. Ein Pädophiler ist er wohl nicht, auch wenn diverse einschlägige Bilder und Videos bei ihm gefunden wurden. Sein Verteidiger sagt, das "Cyber Grooming" sei am Ende eine wahre Sucht gewesen und sein Mandat sei letztlich sogar froh gewesen, dass man ihn geschnappt und gestoppt habe.
Die Staatsanwältin hält dem Mann in ihrem Plädoyer seine Kooperation zugute, mit der Eugen S. verhindert hat, das betroffene Mädchen im Prozess aussagen müssen. Aber sie sagt auch: "Der Angeklagte hat ja gesehen, dass es wirklich kleine Mädchen waren und nicht nur irgendwelche Bites und Bytes. Es war ein unbarmherziges Vorgehen mit hoher krimineller Energie und hatte massive psychische Folgen für die Opfer." Das Gericht verurteilte Eugen S. letztlich zu dreieinhalb Jahren Haft und blieb damit überraschend deutlich unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die fünf Jahre gefordert hatte. Der Richter zeigte sich aber über die große Zahl an Fällen schockiert und machte klar: "Der Angeklagte hat sich über den Computer an jungen Menschen vergangen."