“Unmenschliches Sozialexperiment” Dänemark trennte Inuit-Kinder von ihren Familien – 70 Jahre später entschuldigt sich die Regierung

Eine ältere Frau hält die Hände vors Gesicht
Nach 70 Jahren entschuldigt sich die Regierung Dänemarks für ein soziales Experiment, bei dem 22 Inuit-Kinder von ihren Familien getrennt worden waren
© Liselotte Sabroe / Picture Alliance
Mehr als 70 Jahre haben sie auf die Entschuldigung von Dänemark gewartet: die Inuit aus Grönland, die als Kinder von ihren Familien getrennt und aufs Festland verschleppt wurden. Die letzten sechs Überlebenden leiden noch immer unter den Folgen dieses "Experiments".

Die 76-jährige Kristine Heinesen erinnert sich noch immer lebhaft an den Tag, an dem sie ihre Heimat verlassen musste. Damals sei sie fünf Jahre alt gewesen und ihre Brüder hätten sie mit in einem Boot auf ein großes Schiff gerudert, auf dem das Mädchen anschließend nach Dänemark reiste. "Wir haben uns immer weiter entfernt, und es wurde klar, dass ich nicht zurückkommen würde", erzählt sie der "BBC".

Zusammen mit 21 anderen Inuit im Alter von fünf bis acht Jahren kam sie zunächst in ein Pflegeheim. Die Kinder wurden 1953 Teil eines sozialen Experiments, eine Vereinbarung zwischen den Regierungen in Dänemark und Grönland. Die Insel, heute eine autonome Region des dänischen Königreiches, war damals eine dänische Kolonie.

Dänemark wollte Entwicklung von Grönland vorantreiben

In den 1950er Jahren setzte sich Dänemark zum Ziel, die Entwicklung Grönlands voranzutreiben. Wegen der schlechten Lebensbedingungen auf der Insel – Armut, kaum Infrastruktur, die Ausbreitung von Tuberkulose – geriet die dänische Regierung zunehmend unter Handlungsdruck.

"Das Ziel war, den Lebensstil der Grönländer an das dänische Modell anzupassen", erläutert Ebbe Volquardsen, Professor für Kulturgeschichte an der Universität von Grönland der "BBC". Als wichtigstes Instrument dazu galt die dänische Sprache. Deshalb sollten 22 Inuit-Kinder, die die Regierung als überdurchschnittlich intelligent einstufte, mehrere Monate in Kopenhagen verbringen. Sie sollten die Sprache erlernen und nach westlichen Werten erzogen werden.

Die jungen Grönländer sollten dann als eine Art Elite zurückkehren, die die dänische Kultur in der Kolonie verbreiten und die Brücke zwischen indigener und moderner Lebensweise schlagen würde. Den Eltern versicherte man laut einem Bericht des "Guardian", dass auf die Kinder in Kopenhagen ein besseres Leben warten würde. Niemals hätten sie damit gerechnet, ihre Söhne und Töchter nie wiederzusehen.

Die kleine Inuit-Jägersiedlung Tiniteqilaaq mit rund 120 Einwohnern
Eine kleine Inuit-Siedlung auf Grönland.
© Patrick Pleul / Picture Alliance

Kein Kontakt zur eigenen Kultur

Kontakt zu ihrer Familie durften die Inuit in Dänemark nicht haben. Helene Thiesen, heute 76, beschreibt die Zeit als einen Albtraum. Die Kinder hätten enorm unter Heimweh gelitten. "Wenn einer von uns anfing zu schluchzen, weinten alle anderen auch", erzählt sie in einem "Arte"-Beitrag. Nach anderthalb Jahren durften 16 Kinder zurück nach Grönland fahren, die übrigen sechs gab man zur Adoption frei, ohne das Wissen der Eltern.

Selbst die Kinder, die zurückkehrten, durften nicht bei ihren Angehörigen leben. In einem Heim des Dänischen Roten Kreuzes und der Nichtregierungsorganisation "Red Barnet" sollte "die Elite unter sich bleiben", wie die "Neue Zürcher Zeitung" berichtete. Ihnen war es weder erlaubt, Kontakt mit anderen, grönländischen Kindern zu haben, noch ihre Muttersprache zu sprechen. Die Eltern durften einmal pro Woche zu Besuch kommen.

Inuit verloren in Dänemark ihre Identität

Gabriel Schmidt, heute 77, sah seinen leiblichen Vater erst im Teenager-Alter wieder. Bis dahin hatte er die grönländische Sprache verlernt und konnte sich nicht mehr mit seinem Vater unterhalten. "Es war sehr traurig", erinnert er sich im Artikel der "BBC". Die Kinder verloren die Verbindung zu ihrer ursprünglichen Kultur und bildeten eine Randgruppe auf der Insel, marginalisiert in der eigenen Heimat. Die "Neue Zürcher Zeitung" nennt es ein "Bildungsexperiment, das krachend scheiterte".

Zwei Inuit-Kinder spielen am Hafen
Kontakt zu anderen Inuit-Kindern war der "Elite" nicht gestattet.
© Christophe Boisvieux / Imago Images

Die Folgen, die die Kinder davontrugen, waren gravierend. Eine Untersuchung der dänischen Regierung zeigte auf, dass die Hälfte von ihnen im Laufe des Lebens mit psychischen Problemen und Alkoholismus zu kämpfen hatte. Die meisten verstarben noch, bevor sie das 50. Lebensjahr erreichten.

Dänemark entschuldigt sich nach 70 Jahren

Die heute noch lebenden Inuit seien laut Anwalt Mads Pramming, der die sechs Grönländer vertritt, davon überzeugt, dass ihre Leidensgenossen an Kummer gestorben seien. Dass sie Teil eines Experiments waren, fanden sie erst in den späten 1990er-Jahren heraus, als Journalisten sich der Geschichte annahmen.

"Ich konnte nicht mehr aufhören, zu weinen, als ich von dem Versuch erfuhr", gesteht Helene Thiesen im "Arte"-Beitrag. Doch eine Entschuldigung lehnte die dänische Regierung lange Zeit ab mit dem Verweis, die Sache gehöre der Vergangenheit an. Mette Frederiksen, heute Ministerpräsidentin von Dänemark, sprach laut "Deutschlandfunk" bereits 2009 von einem "schwarzen Kapitel unserer Geschichte", das man aufarbeiten müsse.

"Es war herzlos"

Bis es dazu kam, vergingen noch einmal 13 Jahre. Vergangenen Mittwoch richtete die Politikerin bei einer Zeremonie in Namen der Regierung eine offizielle Entschuldigung an die sechs Inuit. "Was Sie erlebt haben, war schrecklich. Es war unmenschlich. Es war ungerecht. Und es war herzlos", zitiert der "Guardian" die 44-Jährige. Zusätzlich erhielten die Betroffenen jeweils eine finanzielle Kompensation von umgerechnet jeweils 33.600 Euro.

Ministerpräsidentin Mette Frederiksen entschuldigte sich am Mittwoch persönlich bei den sechs Grönländern.
Ministerpräsidentin Mette Frederiksen entschuldigte sich am Mittwoch persönlich bei den sechs Grönländern.
© Liselotte Sabroe / Picture Alliance

Anwalt Mads Pramming betont, dass das Experiment die Menschenrechte der Inuit verletzt habe. Als "wurzellose Menschen mit gebrochenen Biografien", bezeichnet "Deutschlandfunk" die Grönländer. Dennoch sieht Pramming die finanzielle Entschädigung und die öffentliche Entschuldigung als großen Erfolg – ebenso wie die sechs Inuit.

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