Wir gehörten zur Elite der Bundeswehr. Sagte man uns jedenfalls oft. Als Sanitätskompanie waren wir Teil der Allied Command Europe Mobile Force (AMF), der schnellen Einsatztruppe der NATO. Wenn die Sowjetunion einen Krieg geplant hätte, wären wir binnen weniger Tage einsatzbereit an der vordersten Verteidigungsfront gewesen, an der Grenze zwischen Norwegen und Russland. Wir hätten dort einen Hauptverbandsplatz aufgebaut, um verletzte Soldaten zu versorgen.
Lange ist es her, sehr lange.
Damals habe ich mich oft gefragt, wir wir das nur hätten stemmen sollen? Ein Gros des Fußvolks der Bundeswehr, Gefreite und Obergefreite, bestand in jenen Jahren aus Wehrpflichtigen. Im Sanitätsdienst hatten wir eine Schmalspurausbildung hinter uns. Wir wussten, wie man im Feld Verletzte birgt. Wir hatten uns gegenseitig Verbände angelegt, an einer Puppe Reanimationen geübt und noch ein paar mehr medizinische Grundfertigkeiten erlernt. Aber nur die Wenigsten von uns hatten schon Wunden versorgt oder ein Krankenhaus von innen gesehen.
Wir waren da, um nicht gebraucht zu werden.
Natürlich unterschied sich die sicherheitspolitische Situation in den späten Achtzigern fundamental von der heutigen. Zwar standen sich zwei Machtblöcke feindlich gegenüber, ein Verteidigungsfall aber war nur noch schwer vorstellbar. Wir glaubten an das Prinzip der atomaren Abschreckung. Unsere Sanitäts-Eingreiftruppe hatte auf dem Papier die nötige Mannstärke, aber ich mag mir nicht vorstellen, dass die Generäle damals glaubten, wir seien wirklich "kriegsfähig". Wir waren da, um nicht gebraucht zu werden.
Um wirklich auf den Ernstfall vorbereitet zu sein, hätte ich eine viel fundiertere Ausbildung gebraucht. Ich hätte ein Jahr im Krankenhaus arbeiten müssen, um wenigstens die wichtigsten medizinischen Grundlagen zu verinnerlichen – so lange braucht eine Ausbildung zum Krankenpflegehelfer.
Wehrpflicht? Lasst uns lieber endlich die Grundwehrdienstleistenden professionalisieren
Und genau davon sprechen wir, wenn wir heute von Wehrpflicht sprechen. Wir müssten zuerst einmal die Grundwehrdienstleistenden in allen Bereichen professionalisieren. Wäre dieses Ziel in Deutschland erreichbar? Noch gibt es nicht mal Kreiswehrersatzämter, um junge Menschen zu mustern. Die Logistik der Wehrpflicht wurde abgebaut, aber unser Verteidigungsminister Boris Pistorius glaubt, dass es sogar möglich wäre, Wehrpflichtige so fundiert auszubilden, dass sie wirklich "kriegstüchtig" wären?
Daran habe ich große Zweifel.
Einige unserer europäischen Nachbarn haben eine Wehrpflicht: Österreich, Griechenland, Estland, Litauen, Schweden, Norwegen, die Schweiz. Wie gut ihre Ausbildung ist, vermag ich kaum zu beurteilen, aber wenn ich mir solche Wehrpflichtigen im Krieg vorstelle, kommt mir der Film "Im Westen nichts Neues" in den Sinn. In Bezug auf Ausbildungsstandards müssten wir uns wohl eher an der kriegserprobten israelischen Armee orientieren, wo Männer drei und Frauen zwei Jahre Wehrdienst leisten.
Und doch sollten wir, noch vorrangiger, um etwas anderes reden.
Ein soziales Pflichtjahr im Zivil- und Katastrophenschutz
Erforderlich wäre nämlich vor allem ein soziales Pflichtjahr, und zwar abzuleisten bei Institutionen des Zivil- und Bevölkerungsschutzes: der Freiwilligen Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk, im Rettungsdienst oder in der Pflege in Krankenhäusern. Überall dort fehlt Personal.
Schon für den Fall eines hoffentlich weiterhin dauerhaften Friedens wäre ein soziales Pflichtjahr nötig, um dieser Nachwuchssorgen dauerhaft Herr zu werden. Falls Deutschland aber, Gott bewahre, in einen Krieg hineingezogen würde, dann wären diese Institutionen ebenso wichtig wie eine gut ausgebildete Berufsarmee. Denn der erste Auftrag der Bundeswehr ist dann der Schutz der verteidigungsrelevanten Infrastruktur, nicht der Bevölkerung.
Würde ein NATO-Land angegriffen, wäre Deutschland die "Drehscheibe" für Soldaten aus verbündeten Ländern, das hören wir immer wieder. Kürzlich habe ich auf einem Symposium in Berlin von Generälen der Bundeswehr dann aber auch mal gelernt, was dieses Wort – Drehscheibe – de facto bedeutet: Es gäbe Züge mit Schwerverwundeten aus den angegriffenen Ländern, die in eilig aufgebauten "Hauptverbandsplätzen" und Krankenhäusern versorgt werden müssten, bevor sie weiter in ihre Heimatländer transportiert werden könnten, oder zurück an die Front. Flüchtlingsströme kämen an und bräuchten Versorgung. Täglich müssten Abertausende Liter Trinkwasser, Diesel, Lebensmittel und Ausrüstung für die Soldatinnen und Soldaten an die Front transportiert werden. Um all das zu stemmen, brauchen wir eine starke zivile Infrastruktur.
Der erste Schritt ist es, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, damit unsere Gesellschaft resilienter wird.
Und deshalb ist der erste Schritt eben nicht, lauthals eine Wehrpflicht zu fordern, ohne genau darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeuten soll und würde. Nein, der erste Schritt müsste sein, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, damit unsere Gesellschaft resilienter wird.
Ein notwendiges Projekt, das aber, davon darf man ausgehen, wie so vieles andere auch am Widerstand der FDP scheitern wird. Deren verteidigungspolitischer Sprecher hat sich in der "Welt" klar positioniert: "Ein Entzug der freien Lebensgestaltung, der grundgesetzlich geschützt ist, erfordert eine erhebliche Dringlichkeit der Bedrohungssituation, die wir nicht haben", wird er dort zitiert.
Wie aber steht es dann um den "Entzug der freien Lebensgestaltung", wie ihn die Geburtsjahrgänge bis Mitte der 80er Jahre erlebt haben? Diejenigen, die bis zum Jahr 2011, als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, in der Bundeswehr gedient, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen oder Kindergärten gearbeitet haben? Ich meine zu wissen, dass wir das als einen wenn nicht selbstverständlichen, dann zumindest aber unvermeidbaren Dienst an der Gesellschaft begriffen haben. Im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes, vor allem aber zum Schutz unseres Landes muss so ein Dienst deshalb auch jüngeren Generationen zuzumuten sein.
Es gibt kein vernünftiges Argument gegen ein soziales Pflichtjahr. Nur ein Zurück zur Wehrpflicht wäre ein gefährlicher Unsinn.