Was war in der Familie der getöteten Nadine los? Warum ist niemanden etwas aufgefallen? Haben wieder alle Beobachter die Augen zugedrückt? Ingrid Alsleben, Sozialdezernentin in Gifhorn, nimmt das örtliche Jugendamt in Schutz. "Die Familie machte im Großen und Ganzen einen - in Anführungszeichen - vernünftigen Eindruck". Die Impfbücher der Kinder seien halbwegs vollständig gewesen, die Eltern seien mit den Kindern zum Arzt gegangen, sie hätten auch die Sprechstunden an der Schule wahrgenommen. Den Sozialarbeitern sei nur die Sprachschwäche von zwei Geschwistern Nadines aufgefallen. Sie erhielten, mit Unterstützung des Amts, eine spezielle Förderung. Währenddessen moderte Nadines Leichnam bereits in einem heimlich ausgehobenen Grab.
Die Staatsanwaltschaft des Langerichts Hildesheim, das Daniel M., Nadines Stiefvater, Anfang Mai zu acht Jahren Haft verurteilte, hatte ein ganz anderes Bild der Familie gezeichnet. Von Trinkgelagen der Mutter war die Rede, von ihren ständigen Seitensprüngen und von Daniel M.s Gewaltausbrüchen. Er habe sich gedemütigt gefühlt und seine Frau Susanne M. gewürgt und geprügelt. Außerdem habe er seine Wut an Nadine ausgelassen, weil sie die Tochter eines fremden Mannes war, das Resultat ihres Fremdgehens. Deswegen, so die Staatsanwaltschaft, habe er sie auch später getötet.
Jugendamt? "Keine Versäumnisse"
Daniel M.s Vater Hans-Udo R. war offenbar der Einzige, der die Gefahr wahrnahm. Zwar beteuerte er in einem Gespräch mit stern.de, er habe seinen Sohn nie angezeigt. Sven-Marco Claus, Sprecher der Gifhorner Polizei, sagt jedoch, R. habe sehr wohl Anzeige erstattet - wegen Körperverletzung. R. habe bei der Polizei auch den Verdacht geäußert, dass Nadine misshandelt werde. "Es gab hörbare Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, da ging es um Nadine. Das bestätigten auch die Nachbarn", sagt Claus. Aber bei die Beamten hätten bei dem Mädchen nur ein Hämatom gefunden, einen blauen Fleck also, so etwas passiert auch beim Spielen. R. zog seine Anzeige dann rasch wieder zurück. Das Jugendamt Gifhorn schaltete sich ein und fand keinen Anlass zur Sorge. "Wir können keine Versäumnisse auf unserer Seite feststellen", resümiert Sozialdezernentin Alsleben. Als die Eltern dann versuchten, eine nachgeborene Tochter mit den Papieren der getöteten Nadine zur Schule anzumelden, wurde das Verbrechen ruchbar.
Seitdem sitzt den Beteiligten der Schock in den Knochen. "Es gibt nichts, was es nicht gibt", kommentiert Polizeisprecher Sven-Marcon Claus mit Schaudern. Das Jugendamt Gifhorn schaltete sich wieder ein und entzog Susanne M. per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht für fünf ihrer Kinder. Das sechste, das erst vor wenigen Tagen geboren wurde, darf vorerst bei ihr bleiben. Ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Eltern soll bis zum Spätsommer klären, ob und welche Sorgerechte Susanne M. und Daniel M. behalten können.
Die Kampagne des Vaters
Unterdessen wird Nadines mutmaßliche Leiche obduziert. Ein DNA-Test soll aufzeigen, ob die gefundenen Knochen tatsächlich ihre sterblichen Überreste sind. Gleichzeitig untersucht die Gerichtsmedizin Todeszeitpunkt und die Todesursache. Klaus Bretschneider, Sprecher der Hildesheimer Staatsanwaltschaft, sagte zu stern.de, dass der verspätete Fund der Leiche allerdings wohl nichts mehr an dem Urteil ändere. Der Korpus weise zwei bereits verheilte Knochenbrüche und einen abgeheilten Schädelbruch auf - Hinweise, dass Nadine schon zu Lebzeiten brutal misshandelt wurde. Mit ersten belastbaren Ergebnissen sei nicht vor Ende kommender Woche zu rechnen. Daniel M.s Verteidiger haben mittlerweile Revision eingelegt.
Hans-Udo R. fährt inzwischen - trotz seiner damaligen Anzeige - eine Kampagne für seinen Sohn. Der Gutshofbesitzer redet nicht mit seinen Gesprächspartnern, er schreit. "Die ganze Geschichte ging von Anfang an gegen sie", erbost er sich. Die Justiz, die Polizei, die Medien, sie alle hätten seinen Sohn und dessen Familie diffamiert, überall nur "Lüge", "Intrige" und "Manipulation". Nadine sei, wie von Daniel M. behauptet, aus dem Stockbett gefallen und an ihren Verletzungen gestorben. "Der Mensch an sich, da sind ja Verwerflichkeiten, die müssen verfolgt werden", sagt er über seinen Sohn. "Aber das hat nichts mit dem Tötungsvorwurf zu tun." Das wolle er nun beweisen, mit einer selbsterstellten Dokumentation über Nadines Überreste, die er - und nicht die Polizei - gefunden hatte.
Manchmal "Bambule"
Hans-Udo R. sagt, in der Familie seines Sohnes habe es schon manchmal "Bambule" gegeben. Aber das sei ja überall so. Ansonsten sei alles in Ordnung gewesen. Die Wohnung. Die Schulzeugnisse. Und die Freundlichkeit, mit der die Eltern mit ihren Kindern umgegangen seien.