Crime Story Das Leben einer Mutter

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Ein Whiteboard mit Notizen und Fahndungsplakaten
Noch immer hängen in einem Büro der Polizei Gifhorn die Bilder der Frau
© Mario Wezel
Eine unbekannte Tote wird gefunden. Niemand vermisst sie. So scheint es zumindest

Er war ein kleiner Junge in einer Stadt am Meer.

Er war sechs Jahre alt. Seine Haare waren schwarz, seine Augen auch, wie die seiner Mutter.

Als Baby hatte er auf ihrem Arm gebrüllt. Er hatte dabei groß gewirkt, weil seine Mutter zierlich war. Das kann man auf alten Fotos sehen. Wie er auf einem Kinderstuhl lümmelte und sie hinter ihm kniete, mit schulterlangem Haar und goldenen Ohrringen. Als er größer geworden war, hatte sie ihn zum Karneval am Strand mitgenommen, sie waren durch die Hitze ihrer Stadt spaziert, vorbei an den Moscheen, zu den magischen Wagen, zu den Fanfaren und Trommeln, unter Palmen. Im Tierpark fütterten sie die Affen. Er liebte Kartoffelchips, und wenn er welche wollte, kaufte seine Mutter sie ihm.

Vieles verstand er nicht, dafür war er zu jung. Aber er verstand, dass sie ihm alles bieten wollte, auch wenn sie wenig hatte.

In jener Nacht, die er nicht mehr vergessen würde, kam sie zu ihm ans Bett. Sie küsste ihn. Legte die Hand auf sein Haar. Er wachte auf. Sie sagte: Schatz, ich gehe jetzt, aber ich komme bald wieder – und dann kommst du mit mir. Er, die müden Augen halb geöffnet, sagte nur: Ja, Mama.

Und schlief weiter.

Erschienen in stern Crime 45/2022