Jahresrückblick 2007 Die Geschichte von Marco W.

  • von Malte Arnsperger
War es eine Vergewaltigung oder nur harmloses Streicheln? Die Wahrheit, was zwischen Marco Weiss und der 13-Jährigen Charlotte M. passierte, weiß außer den zwei Beteiligten niemand so genau. Der Schüler aus Uelzen saß jedoch nach dieser Nacht monatelang in einem türkisches Gefängnis. Der Fall löste einen heftigen internationalen Medien- und Politikerstreit aus.

Was ist in diesem türkischen Hotelzimmer in jener unheilvollen Nacht des 11. Aprils 2007 passiert? Wurde hier ein unschuldiges, wehrloses britisches Mädchen von einem deutschen Schüler sexuell belästigt, ja sogar vergewaltigt? Hat sich hier ein 17-Jähriger über eine schlafende 13-Jährige hergemacht? Oder war alles ganz anders? Hat hier lediglich ein harmloser Urlaubsflirt ein unglückliches Ende genommen? Hat hier ein frühreifes Mädchen mit einem sexuell unerfahrenen Jungen rumgeknutscht und hat nur nicht mit ihm geschlafen, weil er zu aufgeregt vor seinem ersten Mal war? Klar ist nur eines: Die Nacht im April war für acht Monate die letzte in Freiheit für den deutschen Schüler Marco Weiss. Von April bis Dezember saß er im türkischen Badeort Antalya im Gefängnis.

Es dauerte einige Zeit, bis die deutsche Öffentlichkeit von dem Fall Marco und seiner Begegnung mit der Britin Charlotte erfuhr. Die Reaktionen waren umso heftiger. Es entwickelte sich ein wochenlanger Medien- und Politikerstreit zwischen Deutschland und der Türkei. Die Frage war nicht mehr: Wer kennt die Wahrheit? sondern: Wer fährt die größeren Wortgeschütze auf? Auf deutscher Seite war von "gnadenlosen" türkischen Staatsanwälten die Rede, es wurde über Marcos "Horrorknast" berichtet, der einer der härtesten Gefängnisse der Welt sein soll. Deutsche Politiker warnten die Türkei vor negativen Auswirkungen auf die EU-Beitrittsgespräche, sogar der Außenminister und die Kanzlerin fühlten sich berufen, für Marco in die Bresche zu springen. Aus der Türkei hieß es, Zweifel am Rechtssystem des Landes kämen einer "Beleidigung" gleich, man sei doch keine "Bananenrepublik".

Der große Verlierer war Marco

Einen Gewinner dieses hochemotional geführten binationalen Schlagabtausches gab es natürlich nicht. Aber einen großen Verlierer. Marco W. Denn die Diskussion um die Deutungshoheit über Recht und Gesetz hat seinen Interessen sicher nicht genützt. Immer wieder wurden Verhandlungen angesetzt, immer wieder vertagte sich das Gericht in Antalya. Die Richter wollten nun scheinbar alles richtig machen, ihre Unabhängigkeit beweisen und sich keinesfalls unter Druck setzen lassen.

Doch was genau im Gerichtssaal verhandelt wurde, welcher Gutachter was gesagt hat, was Marco ganz konkret vorgeworfen wird, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Ein Grund dafür, dass immer neue Spekulationen in der Presse landeten. Einmal hieß es, Charlotte habe einem Arzt gesagt, sie sei nicht vergewaltigt worden. Dann wieder wurden türkische Ermittler zitiert, die von Charlottes Hilfe-Schreien aus dem Hotel berichten. Zudem verbreitete der Anwalt der 13-Jährigen, dass seine Mandantin Marco sehr wohl Vergewaltigung vorwerfe.

Marco drohte ein Weihnachstsfest im Gefängnis

Während Gutachter, Anwälte, Richter und Medien über sein Schicksal diskutieren, tauchen die ersten - und auch einzigen - Bilder von Marco in Haft auf. Ein hagerer Junge mit kahlgeschorenem Kopf blickt unsicher in die Kamera. Er beteuert verzweifelt seine Unschuld, fleht Charlotte an, die Angelegenheit aufzuklären und ihn zu erlösen. Auch Marcos Eltern, der Vater ist selbst gesundheitlich schwer angeschlagen, wenden sich mit dramatischen Appellen an die Öffentlichkeit. Mutter Martina (49) schrieb in einem in der "Bild"-Zeitung veröffentlichten Brief: "Ich habe Angst wenn ich in Marcos Augen sehe, ich habe Angst um seine Seele, dass etwas in ihm kaputtgeht, Angst dass ihm seine Fröhlichkeit abhanden kommt, Angst, dass er nicht an die Gerechtigkeit glaubt."

Um Gerechtigkeit für Marco bemühten sich zeitweise eine ganze Reihe Anwälte in Deutschland und der Türkei. Doch die Verteidiger konnten keine schnellen Erfolge verzeichnen. Ein wichtiger Grund: Bis Dezember lag keine gerichtlich verwertbare Aussage von Charlotte vor. Auch mehrere Mahnwachen von Marcos Freunden und Angehörigen in seinem Heimatort Uelzen nützten nichts. Für Marco drohte eine Horrorvorstellung Wirklichkeit zu werden: Ein Weihnachtsfest in einem türkischen Gefängnis, tausende Kilometer entfernt von der Familie.

In der Macht der Presse

Doch dann, als es kaum noch jemand für möglich gehalten hatte, am 14. Dezember die große Überraschung: Marco wurde ohne Auflagen auf freien Fuß gesetzt und durfte nach Deutschland ausreisen. Nachdem er damit zwar erstmal den türkischen Behörden entkommen ist, geriet er gleich in die Fänge einer anderen Macht, der Presse. RTL nahm ihn sofort unter Vertrag, sein erstes Interview gab er dem TV-Sender dann exklusiv wenige Tage nach seiner Freilassung, abgeschirmt von der restlichen Welt. Und im heimatlichen Uelzen warteten nicht nur Freunde und Bekannte - zunächst vergeblich - auf den verlorenen Sohn, sondern auch eine Horde von Journalisten.

Marco selber sagte, er wolle sich erstmal von der Mutter verwöhnen lassen. Das sollte er auch genießen, denn noch ist sein türkischer Alptraum nicht zu Ende: In Deutschland wird gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt und in Antalya soll im April der Prozess fortgesetzt werden. Die ganze, die volle Wahrheit über die Geschehnisse im Clubhotel "Voyage Sorgun Select" wird aber wohl nie ans Licht kommen.

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