"Two Spirits" – ein Mensch mit zwei Seelen. So nennen die Ureinwohner Nordamerikas Mitglieder der LGBTQ+-Community. Und das schon seit etlichen Jahren. Zwar hat sich der Begriff erst in den 1990er-Jahren etabliert, doch in nahezu allen Stämmen gab es zuvor eigene Bezeichnungen für Homo-, Trans- und Bisexuelle. Ihnen kam vor der Kolonialisierung eine Sonderrolle in ihren Gemeinden zu. Aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften genossen "Two Spirits" hohe Anerkennung.
Fließende Grenzen in der indigenen LGBTQ+-Community
Der Zwei-Seelen-Begriff hat seinen Ursprung in der Sprache des Ojibwa-Stammes. Laut Kylan Mattias de Vries vom Lehrstuhl für Geschlechter-, Sexualitäts- und Frauenstudien an der Southern Oregon University, verbreitete sich die Bezeichnung nach einer Konferenz für homosexuelle Ureinwohner in Kanada im Jahr 1990. "Two Spirits" habe den zuvor geläufigen Ausdruck "Berdache", der in der Kolonialzeit aufkam, ersetzt.
Der '"Indian Health Service", ein US-amerikanisches Gesundheitsprogramm für Ureinwohner, definiert einen "Two Spirit" als "männliche, weibliche und manchmal intersexuelle Personen, die traditionelle Rollen von Männern und Frauen mit Merkmalen kombinierten, die für den Status als Zwei-Geist-Menschen einzigartig waren". Ursprünglich gemeint waren vor allem Homosexuelle, Transgender und Bisexuelle. Doch die Grenzen waren und sind fließend. "Two Spirits" beschreiben ihre Identität auf vielfältige Weise, von der Möglichkeit, auf das Männliche und Weibliche in ihnen zuzugreifen, bis hin zum Wandeln sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Welt.
Geschlecht an spezifische Aufgaben gebunden
Für die indigenen Stämme war das menschliche Geschlecht ein spirituelles, aber auch pragmatisches Konzept. "Viele Leute gehen davon aus, dass es vor allem um die Geschlechtsidentität oder das biologische Geschlecht geht. Aber ich selbst denke, dass es eine tiefere Bedeutung in Bezug auf die spirituelle Verbindung zum Land und zu unseren Völkern hat", sagt ein Nachkomme des Nisichawayasihk Cree-Stammes in einem Artikel von "USA Today". In vielen Gruppen ist das Geschlecht des Neugeborenen nicht bei der Geburt festgelegt worden, sondern während des Aufwachsens.

Bei den Ureinwohnern gab es eine strikte Aufgabenteilung zwischen der männlichen und der weiblichen Rolle. Während Männer üblicherweise für die Jagd und die Politik verantwortlich waren, übernahmen Frauen das Herstellen von Kleidung, Kochen, Kindererziehung und die Landwirtschaft. Abhängig davon, zu welchen dieser Aufgaben man eher neigte, galt man als männlich, weiblich oder einem dritten Geschlecht angehörig. "'Two Spirits' waren also Menschen, die sich insbesondere durch geschlechtsspezifische Arbeit mit dem entgegengesetzten Geschlecht identifizierten", erklärt Sebastian Braun, Professor für Sprachen und Kulturen der Welt im "Iowa State Daily".
Wertvoll für die Gemeinschaft
Die "Two Spirits" galten demnach als drittes Geschlecht. In einigen Stämmen gab es noch weitere Kategorien. Bei den Navajo gab es laut Braun zum Beispiel mindestens zehn verschiedene Geschlechter. Ein "Two Spirits" adaptierte nicht ausschließlich die Aufgaben des anderen Geschlechts, sondern füllte oft beide Rollen aus. Für die Gemeinschaft erfüllten sie die verschiedensten Aufgaben und wurden deshalb besonders wertgeschätzt. Den Wechsel zwischen den beiden Polen erkannten die indigenen Völker als besondere Gabe an.
Die Hochachtung der "Two Spirits" habe auch mit der Stellung der Frau als "Schöpferinnen von Leben" zu tun. Heike Bungert, Professorin für Neuere Geschichte, schreibt in ihrem Buch "Die Indianer – Geschichte der indigenen Nationen in den USA": "Frauen galten aufgrund ihrer Produktivität als 'Reichtum'." Wegen ihrer (re)produktiven Eigenschaften habe man Frauen als so mächtig angesehen, dass sie sich während der Menstruation zurückziehen sollten.
"Fundamentale Komponente der Klans"
Neben den traditionell männlichen oder weiblichen Aufgaben widmeten sich "Two Spirits" dem Kunsthandwerk. Sie töpferten, webten oder flochten Körbe. Darüber hinaus kam ihnen in den meisten Stämmen zwei der wichtigsten Funktionen zu: Medizin und Religion. Denn die indigenen Völker glaubten, "Two Spirits" seien aus dem Wirken von übernatürlichen Kräften entstanden. "Sie wurden als mysteriöse Menschen angesehen und mysteriös bedeutet mächtig", erläutert Sebastian Braun. Ihnen wurden starke, mystische Fähigkeiten nachgesagt. Daher durften sie besondere, religiöse Rollen einnehmen und unter anderem als Heiler, Schamanen, Propheten oder Bestatter wirken. Das "Rainbow Resource Center", eine Organisation, die sich für Aufklärung und Bildung zu Themen der sexuellen Orientierung einsetzt, bezeichnet die "Two Spirits" als "Führungskräfte", "Quelle von Stärke" und "fundamentale Komponente der Klans".

Angehörige des dritten Geschlechts führten in der Regel gleichgeschlechtliche Beziehungen, würden also heute als homosexuell gelten. Laut "Indian Health Service" glaubte man damals, "Two Spirits" hätten besonders viel Glück in der Liebe und könnten dieses auch weitergeben. Während der Kolonialisierung ist die geschätzte Stellung der "Two Spirits" in Vergessenheit geraten. "Das europäische Konzept für Mann und Frau ist sehr starr und unveränderlich", schreibt Jean Lessenich in "Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften". Die ankommenden Siedler hätten die Sexualität der "Two Spirits" als unmoralisch und pervers abgestempelt. Was von der europäischen Norm abwich, sei verurteilt und dämonisiert worden. "Two Spirits" wurden Opfer von Diskriminierung und Gewalt.
Zweifache Diskriminierung
Nicht nur verloren sie ihre Traditionen und Praktiken, sondern mit der Zeit auch die Anerkennung der Gemeinschaft. Anthropologin Sabine Lang sagt in einem Beitrag der Nachrichtenagentur "Reuters", die Kolonialisierung Nordamerikas hätte "verheerende Auswirkungen" auf die Akzeptanz von "Two Spirits" gehabt. Die Sonderrolle des dritten Geschlechts sei aus dem Bewusstsein vieler nativer Gemeinden verschwunden. Stattdessen hätte man die homophobe Einstellung der Siedler übernommen, berichtet das "Rainbow Resource Center". Indigene Gruppen hätten begonnen, "Two Spirits" als soziale Versager anzusehen – bis heute.
Gedenkmarsch für getötete indigene Kinder in Kanada: "Every Child Matters"

"Einige Menschen in den Gemeinschaften amerikanischer Ureinwohner werden heute leugnen, dass es jemals solche Menschen in ihren Gemeinschaften gegeben hat, trotz anthropologischer Beweise", sagt Sabine Lang. Angehörige der LGBTQ+-Community, die aus indigenen Gruppen stammen, sehen sich einer zweifachen Diskriminierung ausgesetzt: Sie gehören einer ohnehin marginalisierten ethnischen Gruppe an, von der sie zusätzlich Ausgrenzung erfahren. In Kanada sind indigene Transgender laut "Reuters" in der LGBTG+-Community die Gruppe, die das höchste Suizidrisiko aufweist. 37 Prozent von ihnen gaben 2018 in einer Umfrage unter 26.000 Personen an, im vergangenen Jahr eine Selbsttötung versucht zu haben.
Traditionen leben langsam wieder auf
Allerdings ist in den vergangenen Jahren ein Wandel angestoßen worden, der indigenen Anhängern der LGBTQ+-Community Hoffnung macht. Seitdem es seit den 1990er-Jahren offizielle Konferenzen und Versammlungen für sie gibt und der Überbegriff des "Two Spirits" eingeführt wurde, lassen einige Gemeinden die alte Tradition langsam wieder aufleben. Von den mehr als 500 anerkannten indigenen Gemeinden Nordamerikas lehnen manche den "Two Spirits"-Begriff jedoch ab und bestehen auf ihre eigene historische Variante des Ausdrucks.

Doch egal, wie die Menschen in ihren jeweiligen Gruppen genau genannt werden: Die Vorstellung des "Two Spirits" hat sich gewandelt. "Es gibt die traditionelle Bedeutung und die zeitgenössische Bedeutung", erklärt Sebastian Braun. Heute bezieht sich die Bezeichnung fast ausschließlich auf die sexuelle Identität. "'Two Spirits' sind indigene Nordamerikaner, die sich der LGBTQ+-Community zugehörig fühlen, sprich homo- oder bisexuell, transgender oder einem komplett anderen Geschlecht", heißt es im Artikel des "Iowa State Daily".
Bei "USA Today" berichten einige Stammesangehörige, die sich selbst als "Two Spirits" identifizieren, dass man Fortschritte bei der Anerkennung ihrer Personen mache. Sie wünschen sich einen Umgang auf Augenhöhe und dass sie als wertvolle Mitglieder ihrer Gemeinde anerkannt werden. Als einen Heilungsprozess bezeichnet es das "Rainbow Rescource Center". "Wir erobern unsere verlorenen Plätze zurück", sagt Marlon Fixico Blackkettle vom Volk der Chayenne. "Wir haben der Mainstream-LGBTQ+ -Community und der ganzen Welt viel zu bieten und zu lehren", fügt er hinzu. Professor Sebastian Braun stimmt dem zu: "'Two Spirits' zeigen, dass Menschen nicht in Schubladen passen."
Quellen: "Die Indianer – Geschichte der indigenen Nationen in den USA“, "Iowa State Daily", "Indian Health Service", "Rainbow Resource Center", "Reuters", "Transgender in Theologie und Neurowissenschaften", "USA Today"