Halten Sie es für glaubhaft, dass Silvio S. vor den ihm zur Last gelegten Morden an Elias und Mohamed keine Verbrechen begangen hat?
Wenn er der Täter ist, dann wäre es zumindest sehr ungewöhnlich, dass er ohne jegliches kriminelles Vorleben ist. Das müssen nicht zwingend weitere Tötungen sein. Aber dass jemand mit einem Mord anfängt, also gleichsam von 0 auf 100 geht, dazu noch mit einem Mord an einem Kind, widerspricht bisherigen Erfahrungen mit Serientätern, die sexualisierte Gewalt ausüben.
Zur Person
Stephan Harbort, geboren 1964 in Düsseldorf, Diplom-Verwaltungswirt, Kriminalhauptkommissar, Experte für Serienmörder und das kriminalistische Profiling, langjähriger Lehrbeauftragter an der FH Düsseldorf, derzeit Dozent an der BTU Cottbus. Leiter eines Kriminalkommissariats beim Polizeipräsidium Düsseldorf. Entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern. Zahlreiche Fachveröffentlichungen und diverse Sachbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, unter anderem "Das Hannibal-Syndrom: Phänomen Serienmord". Von 1997 bis 2016 Interviews mit mehr als 50 Serienmördern. Im September 2016 startet seine neue TV-Serie "Protokolle des Bösen".
Warum?
Wir beobachten bei diesem Tätertypus eine Fehlentwicklung, die sich in aller Regel über Jahre, teilweise sogar Jahrzehnte vollzieht. Dabei kommt es meist zu einer schrittweisen Annäherung an ein Morddelikt, der Täter tastet sich also gleichsam an die höchste Eskalationsstufe heran. Denkbar sind erste kleinere sexuelle Belästigungen oder Vergewaltigungsversuche. Diese können auch unentdeckt bleiben, etwa, weil die Opfer sich nicht melden. Wenn in den Akten nichts ist, können Sie nie sicher sein, dass da nicht doch etwas ist. Nicht selten begehen spätere Sexualstraftäter zunächst Delikte, die man gemeinhin nicht erwartet, zum Beispiel Körperverletzung, Nötigung, Freiheitsberaubung. Die eigentliche Motivebene ist schon hier sexualisierte Gewalt, sie kann jedoch nicht voll ausgelebt werden, weil der Täter sich noch nicht als solcher präsentieren kann oder sich vom unerwarteten Verhalten der Opfer überraschen lässt. Und weil die Täter sich auch vor Gericht nicht zu ihren abnormen Bedürfnissen bekennen, werden beabsichtigte oder versuchte Sexualtaten juristisch anders bewertet.
Könnte es im Fall Silvio S. sogar eine ganze Mordserie gegeben haben, die mit den Opfern Elias und Mohamed nur zu Ende gegangen ist?
Wir sollten es jedenfalls nicht kategorisch ausschließen. Bei schweren Sexualdelikten an Kindern erleben die Täter ihre Verbrechen nicht selten als euphorisierend. Das Gefühl, eine fremde Person völlig unter Kontrolle zu haben, sich ihrer zu bemächtigen und sie für sich verfügbar zu machen, verschafft ihnen tiefe Befriedigung und Bestätigung. Diese besonders starken Emotionen und aus Sicht des Täters positiven Erfahrungen wollen dann wiederholt ausgelebt werden. Es entsteht ein Muster. Drogensüchtige verhalten sich sehr ähnlich.
Und aus dieser Sucht kann sich eine Mordserie entwickeln?
Oft schaffen sich solche Täter mit ihren Taten so etwas wie eine soziale Ersatz-Identität, die sie in der realen Welt, wo sie sich ausgegrenzt und zurückgesetzt fühlen, nicht aufbauen können. Für sie sind Verbrechen etwas sehr Positives, weil außergewöhnlich und spektakulär. Negative Aspekte werden ausgeblendet. Auch diese Empfindungen führen zu dem Drang, sich wieder als Täter zu präsentieren und nach dem nächsten Opfer zu suchen. Hinzu kommt: Mit jeder neuen Tat wird der Täter selbstbewusster, routinierter und verfeinert seine Methode, sollte die vorherige Tat aus seiner Sicht nicht zufriedenstellend abgelaufen sein.
Silvio S. hat bisher aber nur die beiden Morde an Elias und Mohamed gestanden. Halten Sie es für möglich, dass ein Angeklagter von sich aus noch weitere Taten einräumt?
In der Situation des Prozesses halte ich das für eher unwahrscheinlich. Der Angeklagte erlebt so eine Verhandlung als bedrohlich, wie einen Angriff auf seine Person und versucht deshalb, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Also sagt er besser gar nichts, zumal die Anwälte dazu in aller Regel auch raten werden. Das heißt aber nicht, dass schon alles gesagt worden ist. Es hat Fälle gegeben, in denen Serienmörder vor Gericht eine ganze Reihe von Tötungen gestanden haben, sich aber erst nach ihrem Tod herausgestellt hat, dass es zweifelsfrei noch weitere Morde gab.