Ukraine Soldat auf dem Weg nach Cherson: "Wir werden kämpfen, bis Russland kapituliert"

Vitali B.
Vitali B. hat vor dem Krieg in der Region Cherson als Handelskaufmann gearbeitet. Nun kämpft er für die Armee
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Vitali B. kämpft für die Ukraine in der Offensive auf seine Heimatstadt Cherson. Im Interview berichtet der 31-jährige Soldat von seinem Leben im Krieg und der derzeitigen Situation vor Ort.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei n-tv.de.

Vitali B. kommt aus der Region Cherson, vor dem Krieg hat er als Handelskaufmann gearbeitet. Als Russland die Ukraine überfallen hat, sind seine Frau und seine Tochter nach Norwegen geflohen – er ging zur Armee. Die Einheit des 31-Jährigen ist an der ukrainischen Offensive auf Cherson beteiligt. "Wir kämpfen für unser Land, sie kämpfen für Geld", sagt der 31-Jährige im Interview mit ntv.de. "Wenn es sein muss, werden wir mit Steinen und Stöcken kämpfen."

ntv.de: Wie haben Sie den Beginn des Kriegs damals im Februar erlebt?

Vitali B.: Es war natürlich ein Schock. Niemand hatte erwartet, dass eine umfassende Invasion beginnen würde. Jeder verstand, dass sich die Situation in den Regionen Donezk und Luhansk verschlechtern könnte, aber dass Russland Truppen ins Territorium der Region Cherson entsenden würde, hat keiner erwartet. In den ersten Tagen herrschte Panik, die Menschen wussten nicht, was sie tun sollten. Einige gingen weg, andere brachten ihre Verwandten in Sicherheit, einige gingen zum Rekrutierungsbüro des Militärs. In den Melde- und Rekrutierungsbüros herrschte Hochbetrieb, so viele Menschen wollten und wollen ihr Land verteidigen.

Sie sind jetzt Teil der regulären ukrainischen Streitkräfte?

Ja.

Welchen Dienstgrad haben Sie?

Ich bin Unteroffizier bei der Infanterie. Wir stehen an der vordersten Front.

Das bedeutet, dass Sie direkt beschossen werden?

Es ist immer ein Roulette, wenn Artilleriefeuer kommt, denn man weiß nie, wo es einschlagen wird. Wir haben Angst. Natürlich sagt jeder, dass er keine Angst hat, [aber] wir haben immer Angst. Zuerst hatten wir Panik, jetzt haben wir uns daran gewöhnt. Man hört das Geräusch und weiß, wo die Granate einschlagen könnte. Wenn es schweres Artilleriefeuer gibt, bete ich zu Gott. Er hilft mir immer.

Gab es in Ihrer Einheit viele Verluste?

Ja, es gibt und gab Verluste. Es ist wie überall im Krieg: Wir haben Verluste, die Russen aber auch. Ich denke, sie haben noch viel mehr Verluste als wir.

Wie hart ist das Leben als Soldat?

Wie hart? Nun, wir sind aus Überzeugung hier. Ich meine, es gibt natürlich Nuancen. Die Kälte und das Wetter... Es ist nicht einfach, aber [er zeigt auf eine ukrainische Flagge, die hinter ihm hängt] sie gibt uns Wärme und sie hilft. Dadurch fühlen wir uns besser. Und wir wissen, wohin die Reise geht und wofür wir kämpfen.

Bei Tiktok und Facebook gibt es zahlreiche Videos, die zeigen, wie ukrainische Soldaten in befreiten Dörfer empfangen werden. Was für ein Gefühl ist das?

Die Menschen warten darauf, dass wir ihre Dörfer befreien. Die Leute warten auf uns, sie grüßen uns. Diese Gefühle lassen sich nicht in Worte fassen – die Menschen weinen, wenn sie die ukrainischen Streitkräfte sehen, die in ihr Dorf kommen. Sie weinen, umarmen einen und wollen helfen. Sie bringen Wasser und Essen. Wir haben die gleichen Gefühle, wir wollen ihnen helfen, mit Lebensmitteln und allem, was sie brauchen. Emotional ist das immer sehr aufregend. In diesen Momenten verstehen wir, dass das alles nicht umsonst ist. Und wir verstehen, dass die Wahrheit auf unserer Seite ist, dass die Menschen wollen, dass es die Ukraine gibt. Die Menschen wollen nicht ein Teil von Russland werden, sie wollen, dass wir unser eigenes Land haben.

Vitali will um Cherson kämpfen

Sie befinden sich im Moment in der Region Cherson. Warum ist die Stadt Cherson strategisch so wichtig?

Ich würde sagen, dass es nicht um Cherson geht. Es geht um jedes Dorf, um jede Stadt. Das ist unser Land, das sind unsere Städte, egal ob Cherson, Charkiw, Donezk, Luhansk, Odessa – das sind alles ukrainische Städte, das ist unser Land, und wir werden bis zur letzten Stadt und bis zum letzten Dorf kämpfen. Bis Russland seine Truppen abzieht. Bis Russland kapituliert.

Können Sie sagen, wann Sie damit rechnen, Cherson zu befreien?

Ich denke, in ein paar Monaten wird Cherson uns gehören.

Weil die Russen sich gerade zurückziehen?

Weil sie sich jetzt in einer viel schlechteren Lage befinden als wir. Sie fliehen, sie sind nicht mehr so stark wie zu Beginn des Krieges. Ich würde nicht einmal sagen, dass sie [damals] so stark waren, sie haben nur etwas getan, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Jetzt hat sich die Situation geändert. Wir kämpfen für unser Land, sie kämpfen für Geld, und Geld ist keine Motivation. Wir dagegen kämpfen für eine Idee. Wenn es sein muss, werden wir mit Steinen und Stöcken kämpfen. Aber wir werden nicht kapitulieren.

Was passiert, wenn Cherson befreit ist? Wird die ukrainische Armee dann Richtung Krim weiterziehen?

Natürlich glaube ich das, ja, ich rechne damit. Wir sollten unsere Krim zurückholen, denn die Krim gehört zur Ukraine. Wir werden an der Brücke von Kertsch anhalten [die nach Russland führt]. Und dann werden wir im Donbass, in Luhansk und in Donezk kämpfen. Wir brauchen Russland nicht, wir kämpfen nur für unser eigenes Land. Wir werden an die Grenze gehen und brauchen ihr Land nicht.

Sie haben erzählt, dass Sie eine Frau und eine Tochter haben. Wann haben Sie zuletzt mit ihnen telefoniert?

Wenn ich kann, rufe ich jeden Tag an. Es hängt davon ab, ob ich Zugang zum Internet habe, zum Beispiel über Starlink. Erst heute Morgen habe ich mit meiner Frau und meinem Kind gesprochen. Mein Kind spricht natürlich noch nicht so viel.

Wie alt ist Ihre Tochter?

Ein Jahr und acht Monate. Ich habe sie seit acht Monaten nicht gesehen.

Haben Sie Angst, in diesem Krieg zu sterben?

Ja, ich denke, alles ist möglich. Viele von uns kommen vielleicht nicht aus diesem Krieg zurück. Wenn Gott beschließt, mich heute wegzunehmen, wird er es tun. Aber niemand hier wird aufgeben, niemand wird sich verstecken. Wenn ich mein Leben für dieses Land geben muss, dann bin ich bereit.

NTV.de/Sergej Maier

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