Die von Russland angegriffene Ukraine bereitet sich weiter auf den erhofften Beginn von Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union vor. Vor einer im Dezember erwarteten Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer wolle sein Land alle Vorgaben der Europäischen Kommission erfüllen, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Wir arbeiten daran, eine bedingungslose Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen zu erreichen."
Nachdem am Montag in Brüssel die Außenminister der EU-Staaten über die Ukraine beraten haben, treffen sich am Dienstag die Verteidigungsminister. Auch bei ihnen geht es um weitere Unterstützung für die Ukraine, die seit fast 21 Monaten eine großangelegte russische Invasion abwehrt. Selenskyj wie auch Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj sprachen am Montag von einer schwierigen Lage an mehreren Frontabschnitten im Süden und Osten des Landes.
Selenskyj: Ukraine will alle Vorgaben für EU-Beitritt erfüllen
Der ukrainische Staatschef beriet am Montag mit seiner Führung über die nächsten Schritte in Richtung EU-Beitritt. Es sei entscheidend, alle Vorgaben der EU-Kommission als Voraussetzung für Beitrittsverhandlungen zu erfüllen, sagte Selenskyj.
Nachdem die Ukraine 2022 zum Beitrittskandidaten erklärt worden war, empfahl Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangene Woche, Verhandlungen zu beginnen. Sie sieht das Land auf gutem Weg, insgesamt sieben Vorgaben zu erfüllen. Unter anderem geht es um die Bekämpfung der Korruption.
Selenskyj stellte den Beitritt als europäisches Projekt dar. "Der Erfolg unseres Landes und unseres Volkes – wirtschaftlich, sozial und bei der Entwicklung der Beziehungen der Ukraine zur Welt – kann nur als gemeinsamer Erfolg ganz Europas erreicht werden", sagte er.
Awdijiwka, Marjinka, Bachmut – die heißen Stellen der Front
In seiner Videoansprache vom Montagabend nannte Selenskyj die Abschnitte der etwa 1200 Kilometer langen Front, an denen derzeit am intensivsten gekämpft wird: "Awdijiwka, Marjinka, Abschnitt Bachmut, Abschnitt Lyman, Kupjansk, Saporischschja, das Gebiet Cherson – an jedem dieser Abschnitte ist es schwierig."
Eine ähnliche Liste nannte Oberbefehlshaber Saluschnyj in einem Telefonat mit dem US-Oberbefehlshaber Charles Brown. "Die Abschnitte Awdijiwka, Kupjansk und Marjinka sind am heißesten. Die Situation ist schwierig, wird aber kontrolliert", sagte er.
Tote bei Artilleriebeschuss auf Cherson in der Südukraine
Über mehreren Gebieten der Südukraine wurde am Montagabend Luftalarm ausgelöst. Die russische Armee habe zwei Gruppen von Kampfdrohnen gestartet, teilte die ukrainische Luftwaffe mit. Tagsüber beschoss russische Artillerie mehrere Ortschaften im südlichen Gebiet Cherson, wie Gebietschef Olexander Proskudin mitteilte. Drei Menschen seien getötet und 17 verletzt worden.
Der nördliche Teil des Gebietes Cherson ist vor einem Jahr von der ukrainischen Armee befreit worden. Der südliche Teil ist aber immer noch von russischen Truppen besetzt. Der Fluss Dnipro bildet die Frontlinie. Allerdings haben ukrainische Truppen zuletzt den Fluss an mehreren Stellen überschritten und Brückenköpfe gebildet.
Die staatlichen russischen Nachrichtenagenturen Tass und Ria Nowosti meldeten am Montag einen Rückzug russischer Kräfte aus der Region. Wenige Minuten später annullierten sie ihre Meldungen aber wieder. Das Moskauer Verteidigungsministerium bezeichnete die Berichte als Provokation.
Ukrainische Winteraussaat schrumpft
Wegen des russischen Angriffskrieges ist die Fläche der Winteraussaat in der Ukraine nach Branchenangaben stark geschrumpft. Bei Winterweizen sei die Fläche mit 3,8 Millionen Hektar nur halb so groß wie vor dem Krieg, sagte Denys Martschuk, Vize-Vorsitzender des Agrarverbandes UAC. Der Rückgang liege daran, dass viel Ackerland wegen der Kämpfe nicht nutzbar sei. Auch hätten die Bauern für ihre Sommerernte nicht genug erlöst, um Saatgut zu kaufen, sagte er.
So sei im kommenden Frühjahr und Sommer eine geringere Ernte zu erwarten. Die Lebensmittelversorgung in der Ukraine sei trotzdem nicht gefährdet, sagte Martschuk. Allerdings werde es weniger Getreide für den Export geben. Wegen russischer Schiffe und Flugzeuge ist die Hauptexportroute für ukrainische Agrarerzeugnisse mit dem Schiff über das Schwarze Meer nur eingeschränkt nutzbar.
Bericht: Lindner gibt mehr Ukraine-Hilfen frei als geplant
Das Bundesfinanzministerium genehmigt einem Medienbericht zufolge für das Haushaltsjahr 2024 mehr Geld als geplant für Rüstungsgüter für die Ukraine sowie für die Wiederaufstockung von an die Ukraine geliefertem Bundeswehr-Material. Vier zusätzliche Milliarden Euro an Barmitteln sind eingeplant, zwei weitere Milliarden sollen als sogenannte Verpflichtungsermächtigungen ausgegeben werden, wie aus einer Aufstellung aus dem Haus von Finanzminister Christian Lindner (FDP) hervorgeht, die dem "Spiegel" vorlag.
Demnach waren vier Milliarden Euro als Barmittel für 2024 vorgesehen und weitere vier Milliarden Euro als Verpflichtungsermächtigungen, die erst später zu Buche schlagen. Das Verteidigungsressort hatte nach Informationen des "Spiegel" intern eine Lücke von rund 5,2 Milliarden Euro bei der Waffenhilfe für die Ukraine geltend gemacht. Die dürfte nun geschlossen sein – vorausgesetzt, der Haushaltsausschuss des Bundestags nimmt bei seiner Bereinigungssitzung am Donnerstag den Vorschlag des Finanzministeriums an und der Bundestag stimmt dem Haushalt im Dezember zu.
Das Geld ist den Angaben zufolge bestimmt "für die weitere Unterstützung der Ukraine sowie zur Sicherstellung insbesondere der Wiederbeschaffung von Bundeswehr-Material, das an die Ukraine abgegeben wurde", hieß es in dem Schreiben.
Woher die zusätzlichen Barmittel in Höhe von vier Milliarden Euro stammen, geht aus dem Papier des Finanzressorts nicht hervor. Die Ukraine-Hilfe wird nicht aus dem regulären Etat des Verteidigungsministeriums bezahlt, sondern aus einem Sondertopf ohne klare Ressort-Zuordnung, dem sogenannten Einzelplan 60.
Das wird am Dienstag wichtig
Einen Tag nach den Außenministern beraten die Verteidigungsminister der EU-Staaten in Brüssel über die weitere Unterstützung der Ukraine. Allerdings zeichnet sich ab, dass ein Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell für längerfristige Finanzierungszusagen für Militärhilfen nicht die erforderliche Unterstützung aller 27 EU-Staaten hat. Deswegen geht es darum, Kompromisse auszuloten. Borrell hatte ursprünglich vorgeschlagen, von 2024 bis 2027 jährlich fünf Milliarden Euro für Militärhilfe zu mobilisieren. Einen neuen Entwurf will er im Dezember präsentieren.