Als Britta Rüdiger* nicht mehr wusste, wie sie das Verschwinden eines Laptops im Wert von rund 4000 Euro aus der SPD-Bundestagsfraktion erklären sollte, ging sie zur Polizei. Praktischerweise befindet sich eine von deren Dienststellen im Reichstagsgebäude: Ein kurzer Weg für die Sachbearbeiterin aus der Beschaffungsstelle. Ein unbekannter Dieb habe das Gerät aus ihrem Büroschrank gestohlen, erklärte Britta Rüdiger den Beamten. Das war im März 2006. Einen Tag später tauchte sie dort wieder auf und gab an, den Diebstahl erfunden zu haben. Das war aber noch nicht alles: Die heute 33-Jährige übergab den Beamten eine Selbstanzeige. Darin gestand sie, fast vier Jahre lang ohne Genehmigung ihres Vorgesetzten technische Geräte für die Fraktion bestellt und anschließend für sich selbst verwendet zu haben.
Uta Eisenhardt
Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin und schreibt für stern, "Spiegel", "Zeit", "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und die "Taz". In der neuen stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.
Nun sitzt die bieder gekleidete Frau vor dem Amtsrichter. Fast eine halbe Stunde lang trägt der Staatsanwalt die von ihr begangenen 111 Fälle von Untreue und Unterschlagung vor. Hinzu kommen noch eine Unterschriftsfälschung und der vorgetäuschte Diebstahl. Mit gesenktem Kopf hört Britta Rüdiger dem Ankläger zu, scheu gleitet ihr Blick zu den Unterlagen, welche die Verteidigerin vor sich ausgebreitet hat. Ihr rundes, hübsches Gesicht ist gerötet, ab und zu schnäuzt sie in ein Taschentuch, doch sie weint nicht.
"Gut, dass es aufgeflogen ist"
Damals, als sie die Selbstanzeige verfasste, tat sie dies mit schonungslosen Worten. Es sei "gut, dass es endlich aufgeflogen ist". Schon oft habe sie bei der Telefonseelsorge angerufen, wo man ihr zur Selbstanzeige und zur Psychotherapie riet. "Doch ich habe nie den Mut und die Kraft aufgebracht", schrieb sie. Warum sie so handelte, wüsste sie nicht. Es geschah "zwanghaft und ungesteuert". Viele der bestellten Handys, Computer, Drucker, DVD-Player oder Kaffeeautomaten habe sie nicht einmal gebraucht. Sie habe diese verkauft oder verschenkt. Manches schickte sie sogar ohne Absender an irgendwelche Adressen im Bundesgebiet, "um mich zu entlasten."
Sie sei erschrocken gewesen, wie "verlogen ich sein kann", sagte Britta Rüdiger in Bezug auf die falsche Diebstahls-Anzeige. Gern würde sie der Fraktion bei der Ermittlung des Schadens helfen. Doch sie könne es verstehen, wenn sie nicht mehr erwünscht sei: "Ich erwünsche mich zur Zeit auch nicht", geißelte sich die junge Frau. Damals sorgte sie sich vor allem um ihren achtjährigen Sohn und ihren Mann, der nichts von der Sache wisse. Er habe ihr die Kontrolle über die Finanzen der Familie überlassen. "Meine Ehe wird dadurch zu Ende sein", befürchtete Rüdiger. "Es war eine gute Ehe, aber nun ist sie kaputt." Mit den Sätzen: "Mein Leben ist ruiniert. Für meine Straftaten muss ich gerade stehen. Ich brauche dringend Hilfe", endete der dramatische Brief.
30.000 Euro schon zurückgezahlt
Am Tag ihrer Selbstanzeige schätzte Britta Rüdiger den Schaden auf etwa 30.000 Euro. Ein Jahr später überreichte ihr die Fraktion eine Liste der unterschlagenen Gegenstände im Wert von etwa 77.000 Euro. Knapp 30.000 Euro hat die Angeklagte mit Hilfe ihrer Familie bereits zurückgezahlt. Bis zum Jahre 2020 will sie monatlich 300 Euro an die Fraktion überweisen.
Warum aber tätigte sie diese sinnlosen Käufe? Warum enttäuschte sie die langjährigen Kollegen, die sie mochten und bei denen sie sich wohl fühlte? Rational ist ihr Handeln nicht zu erklären, die Antwort liegt im Unbewussten. An dieser Stelle hat Rüdigers behandelnder Psychologe seinen Auftritt. Er schildert im Gerichtssaal die bizarre Seelenlage seiner Patientin. Die junge Frau habe damals an Selbsthass gelitten: "Es hat mich sehr an Mädchen erinnert, die sich schneiden. Die aus behütetem Elternhaus kommen und Drogen nehmen. Die erbrechen, obwohl sie schon dünn genug sind." Dieses Phänomen sei typisch für junge, unreife Frauen - Frauen, die wesentlich jünger sind als Britta Rüdiger.
"Die Familie hat nicht gestimmt"
Ursache für ihren Selbsthass sei das Elternhaus der Angeklagten, in dem "alles nett und in Watte gepackt" war, sagt der Experte. Doch "die Familie hat nicht gestimmt", sie ähnelte einer Wohngemeinschaft. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter entdeckte damals ihre Homosexualität. Als Britta Rüdiger dann bei der SPD-Fraktion ihre Lehre als Bürokauffrau antrat, erlebte sie erstmals eine authentische Familie. "Vorher war alles nur bemüht", so der Psychologe. Für den Fachmann geschah die Tat in einer typischen "Symptom schafft sich Konflikt" - Situation. Es sei ein unbewusster Konflikt, in dem ein Mensch nicht selbst agieren, sondern durch den Konflikt agiert würde, doziert er. Kriminelle Energie sähe er bei Frau Rüdiger nicht, auch nicht die Gefahr eines Rückfalls.
Der bizarre Hilferuf hat sogar etwas bewirkt: Der Vater nahm sich seines Alkoholproblems an, die Mutter lebt inzwischen mit einer Frau zusammen. "Sie hat ihre Wahlfamilie bei der SPD-Bundestagsfraktion verloren und ist in ihrer Ursprungsfamilie angekommen", sagt der Psychologe und fügt beschwörend hinzu: "Das hat es gebraucht."
Solche Angeklagten sind selten
Sie ist geständig, reuig, nicht vorbestraft, bemüht, den Schaden wiedergutzumachen und hat mit Kind, Mann und neuem Job eine gute Sozialprognose - solche Angeklagten sind selten. In seinem Plädoyer sagt der Staatsanwalt, das Urteil würde lediglich der Verteidigung der Rechtsordnung dienen, denn "die Angeklagte tue schon alles, um aus dem Teufelskreis herauszukommen." Er fordert 18 Monate Haft zur Bewährung.
Die Verteidigerin schlägt vor, angesichts dem Willen, den Schaden wiedergutzumachen, von einer Strafe abzusehen. Dem widerspricht der Richter, zu groß sei die noch offene Summe. Er meint, "da ist etwas Irrationales bei Frau Rüdiger abgelaufen, was sich in der Nähe der verminderten Schuldfähigkeit bewegt." Ein Jahr Haft zur Bewährung lautet sein Urteil, das Britta Rüdiger erleichtert aufnimmt.
Die Zuschauer, darunter auch ehemalige Kollegen aus der Beschaffungsstelle verlassen den Saal, nicht ohne gefragt zu haben, warum der Leiter der Beschaffungsstelle nicht ebenfalls zur Rechenschaft gezogen wurde. Dann geht Dirk Rüdiger* zu seiner Frau. Er nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen Kuss.
* Namen von der Redaktion geändert