Der Umgang mit dem Ausbruch des Coronavirus im österreichischen Skiort Ischgl droht, sich zu einem handfesten Skandal auszuweiten – mit juristischen Folgen für Verantwortliche.
Bereits in der vergangenen Woche gab es deutliche Hinweise darauf, dass sich die Tiroler Gemeinde zu einer Sars-CoV-Drehscheibe für halb Europa entwickelt hatte. Obwohl es erste bestätige Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus bei isländischen Besuchern des Ortes und einem Barkeeper gab, lief der Wintersport- und Partybetrieb noch tagelang ungestört weiter (der stern berichtete) – möglicherweise aus wirtschaftlichen Interessen.
Verantwortliche bestreiten Fehlverhalten
Das Virus konnte sich so unter den Urlaubern ausbreiten und wurde von ihnen bei der Rückkehr in die jeweiligen Heimatländer importiert, darunter auch nach Deutschland. Wie viele Infektionen in Europa auf Ischgl zurückzuführen sind, lässt sich nicht mehr sagen, die Infektionsketten sind vielerorts schlicht nicht mehr nachzuvollziehen. Doch allein die bekannten Fälle lassen auf eine hohe dreistellige Zahl schließen – mindestens.
Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" kommentierte die Vorgänge mit "Gier und Versagen" in Tirol. Verantwortliche des Landes Tirol verteidigten sich tagelang. Eine Übertragung des Coronavirus durch den Barkeeper auf Gäste "ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich", sagte zum Beispiel eine Mitarbeiterin der Landessanitätsdirektion Tirol. Ischgls Bürgermeister Werner Kurz erklärte: "Wir haben gehandelt, wie die Behörden es uns vorgegeben haben."
Spielte Ischgl vorsätzlich mit der Gesundheit der Menschen?
Nun kommen neue Details ans Licht, die den Schluss zulassen, dass in Ischgl sogar vorsätzlich mit der Gesundheit der Einwohner und Gäste gespielt wurde. Treibend bei den Enthüllungen ist unter anderem der Blog "dietiwag.org" des Tiroler Umweltaktivisten und Publizisten Markus Wilhelm, der in der Vergangenheit immer wieder über Korruption und Vetternwirtschaft in dem Bundesland berichtete. Insbesondere die engen Verflechtungen zwischen politischen Entscheidungsträgern in Tirol und dem landeseigenen Stromkonzern Tiwag stehen immer wieder im Zentrum Wilhelms Berichterstattung.
Am vergangenen Freitag veröffentlichte der Publizist SMS-Nachrichten eines ÖVP-Nationalratsabgeordneten, der zugleich Obmann des Wirtschaftsbundes Tirol ist. Sie gingen an den Besitzer der Après-Ski-Bar in Ischgl, in dem der infizierte Barkeeper gearbeitet hatte. Die Nachrichten stammen Wilhelm zufolge vom 9. März, zwei Tage nachdem die erste offizielle Coronavirus-Infektion in dem Skiort entdeckt wurde und just an dem Tag, als 15 Tests bei Gästen der Bar positiv ausfielen – und fünf Tage, bevor die Skilifte in Ischgl endgültig stillstanden.
"Sperr deine Bar zu", appelliert der Wirtschaftsbundobmann in eriner SMS an den "lieben Peter". "Oder willst du schuld am Ende der Saison in Ischgl und eventuell Tirol sein?" In einer zweiten SMS wird er nachdrücklicher: "Wenn eine Kamera den Betrieb sieht, stehen wir Tiroler da wie ein Hottentotten-Staat." Er warnt: "Der Imageschaden für Ischgl und Tirol ist unermesslich!" Und: "Bitte nimm Vernunft an – nach einer Woche, zehn Tagen ist vielleicht Gras über Sache gewachsen und dann kannst du eh weiter entschieden." *
Der Zeitung "Der Standard" bestätigte der Absender die Echtheit der Nachrichten. Der Empfänger, also der Wirt der Bar, verteidigte sich demnach: "Alle Entscheidungen und Handlungen seien vom "ersten Moment mit Gesundheitsbehörde, Amtsarzt, Exekutive et cetera" getroffen worden.
Wurde die Ausbreitung des Coronavirus in Ischgl aktiv vertuscht?
Klingen diese Nachrichten schon danach, dass beim Umgang mit dem Coronavirus in Ischgl wirtschaftliche Interessen Vorrang vor dem Schutz der Gesundheit hatten und der Ernst der Lage nicht erkannt wurde, zeichnen Recherchen des ZDF ein noch krasseres Bild. Demnach könnte in dem Wintersportort die Ausbreitung des Coronavirus aktiv vertuscht worden sein.
Es besteht der Verdacht, das bereits Ende Februar die Mitarbeiterin einer anderen Aprés-Ski-Bar positiv auf das Virus getestet wurde – die Verantwortlichen des Gastronomiebetriebes den Fall jedoch nicht den Gesundheitsbehörden gemeldet haben, wie es eigentlich vorgeschrieben ist. Die Folge, die das ZDF beschreibt: Ischgl-Urlauber aus Deutschland kehrten am 6. und 7. März in die Heimat zurück – und zwar infiziert. Zu der Zeit, als es offiziell noch keine Infektion in Ischgl gab.
Unter den Mitarbeitern der Gastronomie in dem Skiort soll es aber laut ZDF mehr oder weniger ein offenes Geheimnis gewesen sein, dass es vor dem 7. März bereits eine mindestens eine infizierte Person in ihren Reihen gegeben habe. Die Gäste wussten von nichts.
Nun wird in Ischgl ermittelt
Auf Grundlage des ZDF-Berichts hat nun die Staatsanwaltschaft Innsbruck Ermittlungen zur Ausbreitung des Coronavirus in Ischgl aufgenommen. "Es ist unbekannt, um welchen Betrieb es sich dabei handeln soll und ob tatsächlich Meldepflichten verletzt wurden", teilte die Staatsanwaltschaft der Nachrichtenagentur DPA mit. Dies soll nun ermittelt werden.

Auch Publizist Wilhelm vermeldet auf seinem Blog, dass die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde. Eine Wiener Kanzlei habe insgesamt zwölf natürliche und juristische Personen angezeigt – darunter die Betreiber der betroffenen Bars, der Bürgermeister von Ischgl, der Obmann des Wirtschaftsbundes Tirol und die Tiroler Landesregierung. Die Vorwürfe: vorsätzliche und fahrlässige Gemeingefährdung, vorsätzliche und fahrlässige Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten sowie Missbrauch der Amtsgewalt.
* Schreib- und Grammatikfehler korrigiert
Quellen: "Der Standard" (1), Land Tirol, "dietiewag.org", "Der Standard (2)", ZDF, österreichisches Strafgesetzbuch, Nachrichtenagentur DPA