Fall Tim "Kann mir das auch passieren?"

Es ist schwer, vor dem Haus in der Gärtnerstraße 54 die Fassung zu bewahren. Im Garten lag vor ein paar Tagen die Leiche des kleinen Tim in einer Sporttasche. Nun brennen auf dem Bürgersteig Kerzen. Kinder verabschieden sich.

Überall ist der kleine Junge zu sehen, ein Blondschopf mit blauen Augen, der noch ungewiss in die Welt schaut. So zeigten ihn die Zeitungen, nun klebt das ausgeschnittene Foto auf den Abschiedsbriefen. "Vielleicht wird der kleine Tim in seinem nächsten Leben als Schildkröte wiedergeboren", steht auf einem linierten Recyclingpapier, das in einer Klarsichthülle steckt. "Dann hat er ein längeres Leben und ist auch besser geschützt." Der Absender lautet "Lena, 9 Jahre"

Hunderte von Menschen kommen täglich an der Gärtnerstraße 54 in Elmshorn vorbei. Hier wurde die Leiche des zweijährigen Tim am Mittwoch gefunden. Oliver H., der mutmaßliche Täter, hatte sie in einer Sporttasche im Garten versteckt. Zuvor hatte er den Zweijährigen in seiner Privatwohnung, die nur eine Straßenecke entfernt liegt, offenbar erschlagen - durch "massive Gewalteinwirkung am Kopf", wie es offiziell heißt. Monya H., die Mutter, die Tür an Tür mit dem Täter wohnt, hatte ihr Kind bei Oliver H. einquartiert. Das kam offenbar öfter vor, wenn sie sich erschöpft fühlte.

"Man spricht von der Todesstrafe"

"WARUM ???", steht in großen Lettern auf einem Abschiedsbrief, und so lautet auch der Anfang jedes zweiten Satzes, den die erwachsenen Besucher der Gärtnerstraße diskutieren. Warum hat der 39-jährige Oliver H. ein wehrloses Kind erschlagen? Warum hat die Mutter dem vorbestraften Lebensgefährten vertraut? Warum hat niemand etwas bemerkt? Warum passiert so etwas hier, in Elmshorn?

Eine Frau erklärt, sie habe früher selbst in der Kirchenstraße 42 - dem eigentlichen Tatort - gewohnt. "Die Wände sind so dünn in dem Haus", sagt sie. "Da hört man den Nachbarn pupsen. Wie kann man das Geschrei eines Kindes überhören?" Ihr Mann, der den gemeinsamen Sohn auf dem Arm trägt, bebt vor Trauer und Wut. "Überall, wo ich hinkomme, da spricht man von der Todesstrafe. Es gibt für mich keine Entschuldigung für diese Tat." Wenige Meter weiter kniet eine Frau auf dem Bordstein und betet. Sie weint noch, als sie sagt: "Als Mutter kann man das nicht verstehen."

"Nun kann Dir niemand schaden"

Doch die Erwachsenen verlieren sich förmlich in der Menge. Überall stehen Kinder und starren auf die brennenden Kerzen, die Kuscheltiere, die Abschiedsbriefe und den Schokoladenweihnachtsmann, der an der Hauswand lehnt. Die meisten sind Schüler, schätzungsweise zwischen acht und 16 Jahre alt, die gerade vom Unterricht kommen. "Es ist so traurig, ich muss mir das alles ansehen", sagt Eileen, 11, die schon drei Mal in der Gärtnerstraße war. Auf ihren Abschiedsbrief, der auf den Boden liegt, hat sie geschrieben: "Tim, bitte komm zurück." Neben dieser Zeile klebt ein Bild, das ein Mädchens mit einer Träne auf der Wange zeigt. Ihre Freundin Sema, ebenfalls 11 Jahre alt, hat auch einen Brief an Tim geschrieben: "Nun bist Du dort oben, es kann Dir niemand mehr schaden."

Diese unmittelbare, kindliche Trauer verleiht dem Ort eine ungeheure emotionale Wucht. Es ist, als hätten die Kinder den Jungen als Bruder im Geiste aufgenommen, als sei er nun einer von ihnen. Auf vielen Briefen steht "Wir kannten Dich nicht" und in noch größeren Buchstaben "Wir vermissen Dich." Gerne hätten sie ihn beschützt, damit er ein Leben wie das ihre führen kann. Und jetzt, da er tot ist, soll er sie schützen. Ihr Sohn Valentin, 3, habe zu ihr gesagt "Jetzt ist der Tim im Himmel und passt auf uns Kinder auf", sagt eine Mutter, die mit dem Kleinen vor den Kerzen steht.

Das dünne Eis der Zivilisation

Die Kirchenstraße, in der Monya H., ihre Eltern und Oliver H. wohnen, führt direkt auf die St. Nikolai-Kirche. Pastor Stefan Bemmé betreut deren Mitglieder, und er kennt auch die Angehörigen des kleinen Tim. Es sei bei Monya H. nicht alles in Ordnung gewesen, sagt er. Aber: "Da gibt es kein schuldhaftes Versäumnis der Familie in dem Sinne: Da hat man sich nicht um das Kind gekümmert." Seinen Aussagen ist zu entnehmen, dass Tim eben kein Kind aus einer verwahrlosten Arme-Leute-Familie ist, deren Alltag zwischen Gewalt und Alkohol pendelt. Eben das macht den Fall für Elmshorner so unerträglich. Es gibt kaum Möglichkeiten, sich gegen die Tat abzugrenzen.

"Es war wie ein Erdbeben der Seele", beschreibt Bemmé die Reaktion in seinem Kirchkreis. Viele Eltern hätten sich in den Tagen, als noch nach Tim gesucht wurde, an Momente erinnert, in denen ihre eigenen Kinder nicht aufzufinden waren. Die damalige Angst - "Das vergessen Eltern nie" - sei wieder aufgebrochen. Und als Tim dann erschlagen aufgefunden wurde, sei vielen bewusst geworden, wie dünn das Eis der Zivilisation doch ist. Schließlich ereignete sich die rohe, tödliche Gewalt nicht irgendwo, sondern inmitten ihres beschaulichen 49.000-Seelen-Städtchens. "Wieso gibt es keine Grenzen, und wie können wir Grenzen wieder so einziehen, dass sie wirklich gelten?" - das seien die Fragen, die er nun mit den Erwachsenen diskutiere.

"Ist das normal?"

Auch mit Kindern hat Bemmé immer wieder gesprochen. "Kinder fragen jetzt: Ist das eigentlich normal, dass es Erwachsene gibt, die Kinder hassen und töten?" Das müsse man mit ihnen besprechen, sagt Bemmé. Denn der Fall Tim habe auch unter den kleinen Leuten eine existenzielle Frage aufgeworfen:

"Kann mir das auch passieren?"

PRODUKTE & TIPPS

Mehr zum Thema