Mit einem weißen Taschentuch säubert der ältere Herr die Stelle auf dem Gehweg, ehe er sich hinunterbeugt und auf allen Vieren den Boden küsst. Er sei nervös, weil er sich immer noch wie eingesperrt fühle, sagt Hubert "Nathan" Myers den anwesenden Journalisten. Der 61-Jährige hat soeben ein Gefängnis im US-Bundesstaat Florida verlassen, als freier Mann.
Mehr als 42 Jahre seines Lebens verbrachte er in Haft, weil er 1976 zusammen mit seinem rund 15 Jahre älteren Onkel Clifford Williams Jr. wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nun stellten die Ermittler fest: Den beiden schwarzen Männern wurde zu Unrecht ein großer Teil ihres Lebens geraubt. Das berichten unter anderem CNN, CBS und "Daily Beast".
Harte Beweise gab es demnach nie gegen die beiden, auch nicht während des nur zwei Tage dauernden Prozesses im Jahr 1976. Eine Frau war damals in ihrem Bett liegend erschossen worden, ihre daneben liegende Partnerin überlebte schwer verletzt. Myers und Williams, damals 18 und 34 Jahre alt, wollen zu diesem Zeitpunkt rund einen Block entfernt auf einer Party gewesen sein. Zeugen bestätigten ihre Alibis, gaben zu Protokoll neben ihnen gestanden zu haben, als die Schüsse durch die Nachbarschaft hallten, schreibt CNN. Doch der Anwalt der beiden ließ den Berichten zufolge weder Zeugen zu ihrer Verteidigung aussagen, noch brachte er entsprechendes Beweismaterial in den Prozess ein.
Belastendes Material der Staatsanwaltschaft gab es demnach auch keines. Die beiden wurden einzig wegen der Aussage der überlebenden Frau verurteilt. Opfer und die angeblichen Täter kannten sich laut CBS privat. Die Frau gab an, Myers und Williams während der Tat erkannt zu haben. Die Männer hätten am Fuße des Bettes gestanden und beide mit ihren Waffen auf das schlafende Pärchen geschossen. Glassplitter im Raum und Einschusslöcher in den Vorhängen zeigten laut CBS jedoch deutlich: Der Schütze feuerte von außen durch das Fenster. Außerdem stammten alle Kugeln aus der selben Waffe. Zwei Täter waren es also auch nicht. Die Jury glaubte der Frau trotzdem und sprach beide des Mordes und des versuchten Mordes schuldig. Die entlastenden Beweise sollen zu einem Großteil damals nicht im Prozess vorgetragen worden sein. Die Ankläger behaupteten, Drogenschulden seien das Motiv für die Tat gewesen. Myers und Williams wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Florida: Jahrzehntelang beteuern sie ihre Unschuld
Beide Männer beteuerten stets ihre Unschuld, versuchten während der Haft immer wieder mit Anträgen, den Fall neu aufrollen zulassen. Jahrzehntelang ohne Erfolg. Doch dann rief Floridas Staatsanwaltschaft 2017 eine eigene Abteilung für falsche Verurteilungen ins Leben, die sich mit möglichen Fehlentscheidungen der Vergangenheit beschäftigen sollte. Myers und Williams schilderten dort schriftlich ihren Fall. Die Ermittler nahmen 2018 ihre Arbeit auf und empfahlen in ihrem Abschlussbericht, die Strafe der beiden Männer mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Vergangene Woche tat eine Richterin genau das, seitdem sind die beiden älteren Herren frei.
Laut dem Abschlussbericht soll ein anderer Mann zwischenzeitlich vor Zeugen gestanden haben, damals die tödlichen Schüsse abgegeben zu haben und sich schlecht zu fühlen, weil Myers und Williams an seiner statt im Gefängnis säßen. Dieser Mann starb demnach 1994. Auch die Belastungszeugin von damals lebe mittlerweile nicht mehr. Ihrer Aussage widerspreche aber die Beweislage am Tatort klar. Myers habe zudem bei einem Lügendetektortest erfolgreich seine Unschuld beteuert. "In der Gesamtbetrachtung aller Beweise, von denen die Jury damals größtenteils weder etwas gehört noch gesehen hatte, lässt sich keine überzeugende Gewissheit mehr in die Urteile oder die Schuld der Angeklagten aufrecht erhalten", zitieren die US-Medien aus dem Bericht.
Der 61-jährige Myers verbrachte sein komplettes Erwachsenenleben im Gefängnis und kann es noch immer nicht richtig fassen. "Wenn ich bei meiner Familie bin und mir keine Wärter sagen, was ich tun soll und wie ich es tun soll, wenn ich diese neue Realität voll erfasst habe, dann wird es mir wieder gut gehen."
Quellen: CNN / CBS / Action News Jax / "Daily Beast"
