Schreckensnachrichten über getötete und verwahrloste Kinder haben 2005 bundesweit Trauer und Wut ausgelöst. Tote Säuglinge in Blumentöpfen, Kinderleben in abgedunkelten Räumen zwischen Kot verschmierten Matratzen und Müll wühlten die Öffentlichkeit auf. Beweise oder Aussagen vor Gericht dokumentieren unendliches Leid, unerkannt von Nachbarn und Behörden. Der Schrecken, ein von der Öffentlichkeit abgeschottetes Leben ohne Liebe und Zuneigung in einem Gefängnis in den eigenen vier Wänden rief die Politik auf den Plan. Der qualvolle Tod der kleinen Jessica oder des kleinen Tim riefen blankes Entsetzen hervor.
Am 1. März erstickt die auf knapp zehn Kilogramm abgemagerte sieben Jahre alte Jessica in ihrem dunklen, kalten Kinderzimmer in Hamburg an ihrem Erbrochenem. Vernachlässigt und eingesperrt durchlitt das Mädchen ein Martyrium. Schonungslos bilanzierte Richter Gerhard Schaberg das Grauen im Kinderzimmer: "Sie haben aus mitleidloser, gefühlloser und böswilliger Gesinnung gehandelt, weil sie ihr Leben bei Bekannten und beim Dart leben wollten", sagte er in der Urteilsbegründung über die Eltern. "Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern." Das Urteil: Lebenslange Haft.
Ayla und Tim
Trauer, hilflose Wut und Ratlosigkeit auch nach anderen unfassbaren Verbrechen. Im Mai wird die sechs Jahre alte Ayla im sächsischen Zwickau auf dem Weg zur Schule in ein Auto gezerrt, entführt und schließlich mit einem Schnitt in den Hals getötet. Die Fahnder hatten keine Chance. Stunden zu spät kam der entscheidende Hinweis. Schnell wurde ein verdächtiger, wegen Kindesmissbrauchs vorbestrafter Mann gefasst. Der Vorwurf: Mord und sexueller Missbrauch. Der Vater von zwei Kindern gesteht.
Der Trauermarsch für das kleine Mädchen aus Zwickau stand unter dem Motto: "Lasst Ayla die Letzte sein." Doch nur wenige Monate später erschüttert der Tod des kleinen Tim aus dem schleswig- holsteinischen Elmshorn die Öffentlichkeit. Der Lebensgefährte der jungen Mutter steht unter dem Verdacht, den Jungen brutal durch Schläge auf den Kopf umgebracht zu haben. Die Mutter lebte seit längerem vom Vater des Jungen getrennt und war seit einem halben Jahr mit dem Gelegenheitsarbeiter liiert. Die Leiche des zweijährigen Tim war am 16. November nach tagelanger Suche gefunden worden.
Babys im Blumenkasten
"Oft sind solche Menschen völlig überfordert", sagte der Leiter des kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, Christian Pfeiffer, nach dem Verbrechen. "Das passiert in diesen Hochrisikofamilien drei Mal so oft wie in Familien des Mittelstands." Im Gegensatz zur Wahrnehmung der Öffentlichkeit gibt es in Deutschland nach Pfeiffers Worten aber immer weniger Gewalt gegen Kinder.
Ein schier unvorstellbarer Fall im brandenburgischen Brieskow- Finkenheerd sorgte zuvor bundesweit für Entsetzen. In Blumentöpfen verscharrt werden Ende Juli die Überreste von neun Babys gefunden. Die Mutter brachte die Kinder zwischen 1988 und 1999 zur Welt. Die Frau, Mutter von insgesamt 13 Kindern, soll die Schwangerschaften vor ihrem Mann verheimlicht und die neun Kinder umgebracht haben. Der Fall wirkte auch für politischen Wirbel, nachdem Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) die Hauptursache für Werteverfall und Gewaltbereitschaft in der "erzwungenen Proletarisierung" zu DDR- Zeiten sah.
Lebenslang für den Levke und Felix
Urteile in weiteren Fällen riefen 2005 das unvorstellbare Leid anderer Kinder in Erinnerung. Ende Juni wird der Mörder der Kinder Levke und Felix, Marc Hoffmann, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die Richter stellten die besondere Schwere der Schuld fest. Hoffmann missbrauchte seine Opfer. Nach dem fünf Tage langen Martyrium der dreijährigen Karolina aus Bayern werden die Mutter des Mädchens und ihr Lebensgefährte im April zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hebt die Urteile jedoch auf und ordnet mit deutlichen Worten zu einer härteren Strafe eine neue Verhandlung an. Das Paar hatte das misshandelte Mädchen bewusstlos auf einer Krankenhaustoilette abgelegt und war geflüchtet. Karolina starb kurze Zeit später.
Nicht immer endeten Misshandlungen tödlich - so wurde eine Vielzahl von Fällen bekannt, in denen Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen wie Gefangene gehalten wurden. Ein Leben in Kälte, zwischen Müll und Kot. Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes leben tausende Kinder in Deutschland in verwahrlosten Zuständen. Nach Angaben von Sozialarbeitern sollen allein in Hamburg, wo mehrere Fälle bekannt wurden, über 700 Kinder vernachlässigt werden.
Die Bundesregierung plant nun Hilfsangebote für gestresste Eltern. Nach Todesfällen durch Gewalttaten an Kindern soll künftig früher eingegriffen werden, wenn Eltern überfordert sind. "Der Staat muss von Anfang an dafür sorgen, dass auch Kinder wie Tim oder Jessica einen sicheren Hafen bekommen", sagt Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU).