Das graue gläserne Wartehäuschen des S-Bahnhofs München-Solln ist leer. Auf dem Boden vor der Bank liegen Zigarettenkippen und eine Bananenschale. Eine Zeitungsseite flattert vorbei, der Wind bläst sie auf die Bahngleise und in die dahinter liegende Baumgruppe. Dort irgendwo hatten sich Markus S. und Sebastian L. am 12. September 2009 gegen 16.15 Uhr versteckt. Zur gleichen Zeit lag neben dem Wartehäuschen ein sterbender Mann. Dominik Brunner. Der damals 18-jährige Markus S. und sein ein Jahr jüngerer Kumpel Sebastian L. hatten ihn geschlagen und geprügelt. Nun müssen sie sich wegen des Vorwurfs, einen Mord begangen zu haben, vor Gericht verantworten.
Heute beginnt vor dem Münchner Landgericht der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen Schläger von Solln. Die Tat hatte bundesweit für großes Entsetzen gesorgt und eine breite Diskussion zum Thema Zivilcourage ausgelöst. Denn der 50-jährige Dominik Brunner hatte an diesem Tag eine Gruppe von jungen Schülern vor Markus S., Sebastian L. und ihrem Freund Christoph T. beschützt und war deshalb selbst zum Opfer geworden.
Drei junge Männer ohne Perspektive
Der 12. September 2009. Der Tag beginnt für alle späteren Tatbeteiligten harmlos. Es ist ein Samstag wie viele andere Samstage auch - allerdings mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Markus, Sebastian und Christoph haben die Nacht zuvor im Elternhaus von Markus verbracht und getrunken. Auch am nächsten Tag fangen sie wieder an zu trinken, lungern herum. Die drei sind der Polizei bekannt, die einschlägigen Delikte: Diebstahl, Drogenbesitz oder Körperverletzung. Sie waren schon in Entzugseinrichtungen, in Heimen und vor Gericht. Aber nur Markus ist schon einmal hinter Gittern gelandet, vier Wochen lang befand er sich in Jugendarrest, nur wenige Monate vor der Tat in Solln. Die "Bild"-Zeitung titelte schon: "Warum ließ die Justiz das Killer-Pack immer wieder laufen?" Es sind drei junge Männer, denen eine Perspektive fehlt, deren Leben immer schneller den Abgrund hinunterrutscht.
Ganz anders Dominik Brunner. Der Junggeselle hat den Mittag in einem Schwimmbad verbracht und ist gegen 16 Uhr auf dem Weg in seine Wohnung im schicken Münchner Stadtteil Solln. Abends will er sich noch mit Freunden treffen. Brunner ist Vorstand einer Ziegelfabrik, hat Jura studiert. Ihm gehört neben der Sollner Wohnung auch ein Haus in seiner niederbayerischen Heimatstadt Ergoldsbach. Er ist kulturell interessiert, vor allem an Filmen, auch zu Hause ist er gesellschaftlich aktiv: Der heimischen Freiwilligen Feuerwehr etwa spendet er Ziegel für ein neues Dach. "Dominik war schon immer ein Menschenfreund", sagt Ulrich Kaltenegger, ein Jugendgefährte Brunners, stern.de. "Er war ein Mann des Ausgleichs und Verhandelns."
"Besorgt's denen richtig"
Einen solchen Mann muss es ziemlich geärgert haben, was er an diesem 12. September in der S-Bahn 7, die auf ihrem Weg nach Wolfratshausen in Solln hält, mitbekommt. An der Haltestelle Donnersberger Brücke steigen Markus S., Sebastian L. sowie vier Schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren zu. Was Brunner nicht weiß: Die beiden Halbstarken und ihr Kumpel Christoph haben zuvor versucht, den vier Schülern Geld abzunehmen. Markus, Sebastian und Christoph waren auf Bares aus, für Alkohol und für Drogen.
Christoph, der Rädelsführer, forderte 15 Euro von den Jugendlichen. Die lehnten ab. Christoph schlug mehrfach zu. Dann stiegen die vier Schüler in die S7, mit ihnen Markus und Sebastian. Christoph nicht. Der 17-Jährige hatte kurz zuvor eine andere S-Bahn genommen, er fuhr zu seiner Oma. Seinen Freunden soll er noch zugerufen haben: "Besorgt's denen richtig". Christoph T. wurde mittlerweile unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchter räuberischer Erpressung und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu einer Jugendhaftstrafe von 19 Monaten verurteilt, die unter einer Vorbewährung steht.
Was geschah am S-Bahnhof Solln?
Markus und Sebastian lassen in der S-Bahn nicht von den vier Schülern ab - und geraten deshalb an Dominik Brunner. Er bekommt mit, wie die beiden damit prahlen, die Schüler schlagen und überfallen zu wollen. Zunächst redet Brunner auf die zwei aggressiven Jungs ein, versucht zu schlichten. Ohne Erfolg. Brunner bietet den Schülern an, mit ihm in Solln auszusteigen. Und er ruft per Notruf die Polizei zu dem S-Bahnhof - so laut, dass es jeder hören kann - auch Markus und Sebastian.
Um 16.09 Uhr steigt Brunner mit den vier Schülern in Solln aus, Markus und Sebastian folgen der Gruppe. Über das, was in den nächsten Minuten genau passiert, gibt es unterschiedliche Versionen: Einige Zeugen sagen aus, dass Markus und Sebastian die Gruppe um Brunner mit geballten Fäusten verfolgt hätten. Der S-Bahn-Fahrer schildert es anders. Er will gesehen haben, dass die beiden friedlich waren und sogar schon weggehen wollten. War Brunner also der Angreifer? "Risse im Denkmal" titelte der "Spiegel".
Zumindest scheint sicher, dass Brunner den ersten Schlag gegen Markus ausführte, allerdings wohl eher aus Notwehr, da ein Angriff unmittelbar bevorstand und nicht, weil er auf eine Keilerei aus war. "Er wollte die beiden bestimmt nicht verprügeln", meint sein langjähriger Freund Kaltenegger. "Er ist einfach nicht der Typ, der von sich aus eine Schlägerei sucht." Und auch die damals 13-jährige Sarah, die zu der Schüler-Gruppe gehörte, sagte der "Abendzeitung", Markus und Sebastian seien "mit geballten Fäusten auf unseren Beschützer losgegangen". Die Prügelei dauert nur einige Augenblicke. Dann lassen die mutmaßlichen Täter von ihrem Opfer ab und verstecken sich im Gebüsch hinter den Gleisen. Eine Mauer verwehrt ihnen die Flucht.
Die Staatsanwaltschaft jedenfalls geht davon aus, dass sich Markus und Sebastian an Brunner für dessen Hilfeleistung rächen wollten. Deshalb wirft sie ihnen Mord aus niedrigen Beweggründen vor. Zusammen hätten sie Brunner mit Fäusten und Fußtritten traktiert, ihn sogar mit der Spitze eines Schlüssels attackiert. Rund eine Stunde später werden sie entdeckt und festgenommen. Währenddessen kämpfen die Ärzte um das Leben von Dominik Brunner. Vergebens. 22 schwere Verletzungen waren zu viel für seinen Körper.
Warum hat niemand Brunner geholfen?
Eine der zentralen Fragen, die nach der Tat gestellt wurden, lautete: Warum gab es niemanden, der Brunner half? Warum konnte dieser mutige Mann nicht auf die Zivilcourage anderer setzen?
Heinz Köhler ist ein alteingesessener Sollner. Der heute 87-Jährige wohnt seit 1946 in dem Viertel. Hundertfach ist er schon mit der S-Bahn in die Stadt gefahren, er tut es heute noch. Auch am 12. September geht der Rentner kurz nach 16 Uhr die wenigen Meter von seinem Haus zum S-Bahnhof. Am gegenüberliegenden Bahnsteig, an dem die Züge stadtauswärts halten, bemerkt er die Auseinandersetzung. "Ich habe fünf oder sechs Leute gesehen, die dort gerangelt haben", berichtet er stern.de. "Ich dachte, es seien Schüler, die sich in die Haare bekommen haben. Es sah nicht weiter schlimm aus, deshalb habe ich nichts gemacht und bin weiter nach vorne gelaufen." Wenig später habe er dann gehört, wie Leute auf seinem Bahnsteig "Aufhören, aufhören" gebrüllt hätten. Doch eingegriffen hat offenbar niemand.
Köhler ist kaum ein Vorwurf zu machen, der 87-Jährige wäre wohl auch nicht schnell genug auf der anderen Seite gewesen. Und auch die anderen Menschen, die mit ihm auf dem Bahnsteig stadteinwärts standen, hätten erst die Treppen auf die Fußgängerbrücke hoch und auf der anderen Seite wieder runter rennen müssen. Wahrscheinlich wären sie zu spät gekommen. Ein junger Mann hat offenbar versucht, über die Gleise zu springen, musste aber wegen eines herannahenden Zuges sein Vorhaben abbrechen.
Aber was ist mit den Fahrgästen, die mit Brunner ausgestiegen sind? Mehrere wählten zwar den Notruf. Doch die vier Schüler sagen, sie hätten auch Passanten angesprochen: "Wir haben 'Helft uns!' geschrien, aber die Leute sind vorbeigegangen", sagte Sarah der "Abendzeitung". Der Leiter der Mordkommission, Markus Kraus, hatte der "Süddeutschen Zeitung" gesagt: "Wir wissen nicht, was diese Menschen tatsächlich mitbekommen haben, und inwieweit sie hätten eingreifen können." Laut Staatsanwaltschaft gibt es keine Hinweise auf unterlassene Hilfeleistung.
Die möglichen Strategien der Verteidigung
Für seine Hilfeleistung erhielt Dominik Brunner posthum das Bundesverdienstkreuz. Und trotzdem wird auch sein Verhalten im Prozess kritisch hinterfragt werden. Denn für die Verteidiger seiner Peiniger geht es zum einen darum, den Mordvorwurf zu entkräften. Für sie bietet der wahrscheinlich von Brunner erfolgte erste Schlag eine willkommene Gelegenheit dazu. Denn wenn sich bei der Beweisaufnahme herausstellen sollte, dass Brunner zuerst zugeschlagen hat, stelle sich die Frage, ob der Mordvorwurf zu halten sei, hatte Maximilian Pauls, der Verteidiger von Markus S., nach Bekanntwerden der Anklage gesagt.
Anwalt Pauls könnte also in Richtung Totschlag argumentieren. Jedoch auch dafür kann das Gericht eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. Die Anwälte von Sebastian L., der seinen Kumpel gegen Ende des Gewaltausbruchs angeblich bremsen wollte, könnten sogar versuchen, eine Verurteilung ihres Mandanten wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu erreichen. Sebastian hat vor Gericht sowieso die besseren Karten als sein Kumpel, da er als zum Tatzeitpunkt 17-Jähriger nach Jugendstrafrecht verurteilt werden muss. Zehn Jahre Gefängnis ist hier die Höchststrafe.
Ganz anders sieht es da bei dem älteren Markus S. aus. Der Heranwachsende muss eine lebenslange Haftstrafe fürchten. Für seine Verteidiger geht es deshalb vor allem darum, das Gericht zu überzeugen, dass ihr Mandant in sittlicher und geistiger Hinsicht einem Jugendlichen gleichsteht. Nur dann gilt auch für ihn das mildere Jugendstrafrecht.
Heinz Köhler will sich den Prozess, für den zunächst neun Verhandlungstage bis Ende Juli angesetzt sind, nicht anschauen. Er mache sich noch heute viele Gedanken über diesen 12. September. "Es ist schlimm, dass man nicht helfen konnte und dass dann so etwas passiert." Köhler schaut auf das leere Wartehäuschen am Bahnhof in Solln. Dann fährt wieder eine S-Bahn ein, die S7 nach Wolfratshausen.