Den Geruch von Blut bekommt Rene S. nicht mehr aus der Nase. Er verfolgt den großen, schlaksigen Mann seit dem 9. Juni 2010 - dem Tag, an dem er seinen Vater (67) erstach und seine Mutter (60) erschlug. Das Landgericht Potsdam muss nun klären, ob es sich um heimtückische Morde oder um zweifachen Totschlag handelt.
"Ich würde mich als verschlossen bezeichnen, ich bin nicht der übliche Partygänger." Leise und mit ernster Miene spricht der blasse Rotblonde. Dann schaut er schweigend nach vorn - bis ihm der Vorsitzende Richter Frank Tiemann wieder eine Frage stellt.
So arbeiten sich Gericht und Angeklagter durch ein Leben voller Pein, das im April 1982 in Rathenow begann. Rene S. wurde am 39. Geburtstag seines Vaters Detlef geboren, seine Mutter Sabine war damals "32einhalb", wie der Sohn berichtet. Für DDR-Verhältnisse war das sehr spät. Aber ohnehin war in der Familie S. wenig so wie in anderen Familien.
Rene S. kam mit einer Fehlstellung der Füße zur Welt. Als Kleinkind wurde er oft operiert. Er sei zu 50 Prozent behindert, könne zum Beispiel nicht Fahrrad fahren, sagt er dem Richter. An Hänseleien kann er sich aber nicht erinnern. Möglicherweise war er für seine Mitmenschen einfach nur Luft: Die Pausen auf dem Schulhof verbrachte er allein, den Schulhort besuchte er nicht wie zuvor auch nicht den Kindergarten. Es gab für ihn keinen besten Freund, keine Freundin. Zu Verwandten pflegte die Familie keinen Kontakt. Selbst als der junge Mann 2001 sein Studium begann, lernte er immer allein.
Eindeutige Lösungen
Seine Mutter hätte ihm Jura empfohlen: Die arbeitslose Chemikerin wünschte sich für ihren Sohn eine selbstständige Tätigkeit als Anwalt. Doch schon bald spürte der Student, der lieber Chirurg geworden wäre, Unbehagen mit seiner Fachrichtung. "Für mich ist eins und eins gleich zwei und nicht vielleicht zwei oder von bis zwei", erklärt er dem Richter seine Probleme mit Fächern, in denen Lösungen diskutiert werden.
An einer Zwischenprüfung in Rechtsgeschichte wäre er beinahe gescheitert, wäre nicht bei der Nachprüfung ausgerechnet das dran gekommen, was er gelernt hatte. Sonst hätte sich das mit dem Studium schon früher und von allein erledigt. Dann hätte Rene S. nicht unter solchem Druck gestanden. Vielleicht würden seine Eltern noch leben.
Tapfer studierte er weiter, getreu dem Familien-Motto: Was man einmal begonnen hat, muss man auch beenden. Das ging bis 2008, dann wollte er das Studium endgültig abbrechen. Wie aber sollte er es den Eltern sagen? Ohnehin habe man wenig miteinander gesprochen, mehr wie in einer Wohngemeinschaft nebeneinander her gelebt: Die Mutter hatte das Sagen, der arbeitslose Vater pflichtete ihr bei.
Im Januar 2009 erfand Rene S. ein bestandenes erstes Staatsexamen. Er solle doch noch promovieren, schlug ihm seine Mutter vor. Von Tag zu Tag wurde die Situation schwieriger. Der Student wusste keinen anderen Ausweg, als sich im November 2009 die Pulsadern aufzuschneiden. Im Abschiedsbrief an die "Werten Eltern" meinte er, wenn man ihn gefragt hätte, ob er geboren werden wolle, hätte er dankend abgelehnt. Er empfände das Leben als Endlosschleife aus Aufstehen, Essen und Schlafen: "Deshalb drücke ich jetzt Stopp."
"Opa hat sich im Krieg wenigstens richtig erschossen!"
Es klappte nicht. Trotzdem er sich drei Schnitte gesetzt hatte, hörte die Blutung irgendwann auf. Für einen weiteren Schnitt fehlte dem Verletzten die Kraft. Er rief die Feuerwehr. Nun sagte er seinen Eltern die Wahrheit. Kommentar vom Vater: "Opa hat sich im Krieg wenigstens richtig erschossen!"
Rene wollte nun Finanzbeamter werden. Zahlen, so stellte er sich vor, seien wenigstens konkret. Seine Eltern aber wollten von einer Beamtenlaufbahn und einem von ihnen als zweitklassig empfundenen Fachhochschulstudium nichts wissen. Dennoch bewarb sich der Sohn, wenn auch erfolglos: In Nordrhein-Westfalen scheiterte er.
Das Messer für den Vater, der Hammer für die Mutter
Nur in Hamburg war Rene S. noch im Rennen, als er am 9. Juni um 7 Uhr aufstand. Auch diese Bewerbung sollte scheitern: Er sei zu ruhig, erklärte man ihm später. An jenem Morgen aber war der junge Mann noch voller Zuversicht.
Sein Vater wollte ihn zum Bahnhof fahren. Als beide in den Keller gingen - der Ältere, um Kartoffeln aus einem Sack, der Jüngere, um Kühlakkus für seine Verpflegung zu holen - kam es zur Auseinandersetzung, wie der Angeklagte vor Gericht schildert. Nur wegen ihm sei er so früh aufgestanden, beschwerte sich der Vater. Überhaupt sei die Fahrt doch sinnlos. "Da lief bei mir etwas über", sagt Rene S. "Es machte Klick."
Er nahm das Messer, dass der Vater zum Zerschneiden des Kartoffelsacks in den Keller genommen hatte, und stach zu. Einmal, zweimal, vielleicht zehnmal. Er stach sogar zu, als der Alte längst auf dem Boden lag. "Innerlich leer" habe er sich danach gefühlt. Trotzdem wollte er nach Hamburg fahren: Seine Mutter hätte den Vater zwar sicherlich vermisst, wäre aber aus Angst vor Mäusen niemals in den Keller gegangen.
Er wollte seine Ruhe haben
Er ging in sein Zimmer, holte sein Handy und ein paar Taschentücher, als ihn seine Mutter rief. Er könne sich die Reise sparen, meinte sie. Das sei nur Geldverschwendung. Der Sohn wandte sich ab. Da rief sie, er könne nicht immer weglaufen. "Wieder machte es Klick", sagt der Angeklagte. "Ich wollte meine Ruhe haben."
Sein Blick fiel auf einen Werkzeugkasten neben der Tür zum elterlichen Schlafzimmer. Er nahm einen Hammer, ging zur Mutter und schlug ihr auf den Kopf. Um ihr Gesicht nicht zu sehen, bedeckte er es mit einem Bademantel. Dann schlug er weiter.
Warum, will Richter Tiemann wissen. Es sei derselbe Grund wie beim Vater gewesen, antwortet Rene S.: "Mein Versuch, aus meinem Abi und meinem abgebrochenen Studium etwas zu machen, wurde madig gemacht." Er habe auf die "Stopp-Taste" drücken wollen, wie bei einem Kassettenrekorder.
Misstrauische Nachbarn
Er wickelte die Toten in eine Maler-Folie, reinigte grob die Wohnung und fuhr mit dem nächsten Zug nach Hamburg. Gedanken an die Eltern habe er während des Auswahltests verdrängt.
Was folgt waren Szenen wie aus einem Horrorstreifen, an dessen Ende Rene S. seine Eltern zerteilte, zum Teil die Toilette runterspülte und in Fässer verpackte. Doch die Nachbarn wurden nach vier Wochen misstrauisch und alarmierten die Polizei. Die Beamten schauten sich in dem verwüsteten Haus um. Bei den Antworten des jungen Mannes schöpften sie immer mehr Verdacht. "Oben im Schlafzimmer ist mir Leichengeruch in die Nase gestiegen", sagt ein Polizist vor Gericht. Er begehrte nun auch, den Schuppen mit den Fässern zu sehen. Kienäpfel seien darin, meinte Rene S. Der Beamte glaubte ihm nicht: "Es erschien mir zu schwer", sagt der Zeuge. Als er das Fass öffnete und das Fleisch erblickte, sagte Rene S.: "Sie brauchen nicht weiter zu suchen. Die sind tot."