Ein Vernehmungszimmer bei der Kripo in Hannover, im Hintergrund eine gelbe Wand. Auf dem Tisch steht ein Kaffeebecher, hinter dem Tisch sitzt eine alte Frau, blass, aber gefasst. Sie blickt direkt in die Kamera, die Vernehmung wird aufgezeichnet. Erna F. sagt: "Ich habe in dieser Nacht fest geschlafen. Nach dem Aufstehen fand ich Mario tot in seinem Bettchen. Ich habe ihn geschüttelt und in den Arm genommen. Aber ich habe ihn nicht mehr wach bekommen. Der war einfach tot."
Drei Jahre später, im Sommer 2016, steht Erna F. vor dem Landgericht Neuruppin, angeklagt des Mordes an ihrem achtjährigen Sohn Mario. Sie soll das Kind in der Nacht vom 4. auf den 5. November 1974 mit Kohlenmonoxid vergiftet haben – vor fast 42 Jahren. Staatsanwältin Anette Bargenda braucht keine zwei Minuten, um die Anklageschrift zu verlesen. Erna F. holte demnach das "tief bewusstlose Kind" aus dem Bett, schaffte es in die Küche, "in die Nähe der Kohlenmonoxid-Quelle des Herdes" . Möglicherweise habe sie den Jungen zuvor mit Schlafmitteln betäubt. Dann habe Erna F. gewartet, bis ihr Sohn eine tödliche Dosis Kohlenmonoxid eingeatmet hatte, und das sterbende Kind zurück ins Bett gelegt. Ihr Motiv: "Das verhaltensauffällige Kind war ihr bei der Lebensplanung hinderlich."
Anders als bei der Kripo schweigt Erna F. vor Gericht. Ihr Haar ist toupiert und hochgesteckt. 74 Jahre ist sie inzwischen alt. Man sieht, dass sie einmal eine schöne Frau gewesen ist. "Meine Mandantin bestreitet die Tat, will im Moment nicht aussagen" , sagt ihr Anwalt Uwe Furmanek.
Eine 74-Jährige, angeklagt des Mordes am eigenen Kind
Der Prozess ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich. Eine 74-Jährige, angeklagt des Mordes am eigenen Kind. Und Mario starb in Schwedt an der Oder, im Osten der DDR. Selbst wenn seine Mutter ihn umgebracht haben sollte, wäre der Mord nach 25 Jahren verjährt gewesen. Doch mit der Wende änderte sich die Rechtslage. In der Bundesrepublik Deutschland verjährt Mord nicht. Es ist dem Mauerfall geschuldet, dass Erna F. als alte Frau auf der Anklagebank sitzt.
Und in Neuruppin ist nicht nur ein Verfahren zu besichtigen, das wegen der vielen Jahre, die seit der Tat vergangen sind, besonders ist. Der Prozess gewährt Einblicke in die Justiz der DDR, die 1974 offenbar kein ernsthaftes Interesse zeigte, den Tod des Kindes aufzuklären. Er beschwört geradezu Bilder herauf, wie es wohl gewesen sein könnte, damals in einem Ort wie Schwedt unter dem Regime der DDR, mit einem selbstherrlichen Staatsanwalt, verschleppten Ermittlungen, verschwundenen Unterlagen, unvollständigen Stasi-Akten – und vielleicht auch heimlichen Liebesbeziehungen zwischen Werktätigen und der Obrigkeit. Und er zeigt, wie schwer es ist, nach über 40 Jahren der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Schon die Umstände, die im wiedervereinigten Deutschland die Ermittlungen ins Rollen brachten, sind eigenwillig. Im Sommer 2009 ging bei der Staatsanwaltschaft Hannover eine Anzeige ein. Zehn Zeilen, mit der Maschine getippt, ohne Absender und Unterschrift. "Frau Erna F. hat ihren eigenen Sohn Mario mit Gas ermordet." Das Kind sei seiner "geldgierigen Mutter, die auch noch anschaffen ging, im Weg" gewesen, schrieb der Hinweisgeber. "Warum wurde die Frau für ihre grausame Tat nie zur Verantwortung gezogen?"
Mario starb an Kohlenmonoxidvergiftung
In der Berliner Charité stieß die Kripo auf das alte Obduktionsprotokoll. Tatsächlich war Mario an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Die Konzentration in seinem Blut war extrem hoch. Ob dem Jungen zuvor Schlafmittel verabreicht wurden, geht aus der Akte nicht hervor. Das war gar nicht erst untersucht worden – die Staatsanwaltschaft hatte den Rechtsmedizinern dazu keinen Auftrag erteilt. Warum nicht, ist nicht mehr zu klären. Der damals zuständige Staatsanwalt Bruno G. ist tot, die Akte verschwunden. Fast sieben Jahre zogen sich die Ermittlungen hin. Erst 2013 vernahm die Mordkommission Erna F.
Weil sie die Aussage im Prozess verweigert, wird das Video ihrer Vernehmung vor Gericht gezeigt. "Auf keinen Fall habe ich meinen Sohn genommen und vor den Gasherd gesetzt" , sagt sie in die Kamera. "Das habe ich nicht gemacht." Erna F. wirkt zunächst fahrig, stottert. Doch je weiter sich die Fragen wegbewegen von jener Nacht, in der ihr Sohn starb, desto sicherer wirkt sie. Stück für Stück setzt Erna F. ihre Familiengeschichte zusammen. Erzählt, wie sie als Kind nach dem Krieg mit ihrer Mutter von Schlesien in die Nähe von Berlin floh und auf dem Bauernhof ihrer Oma unterkam. "Meine Tante aus Hannover hat mir schöne Kleider geschickt. Ich bin die Dorfstraße auf und ab gegangen." Das Mädchen schwärmte für die österreichische Kaiserin. Erna nannte sich selbst "Sisi".
Doch ihr Leben verlief nicht glamourös. Erna F. machte eine Lehre als Verkäuferin in einer Fleischerei und heiratete. Eine Zweckehe. "Sein Vater meinte, ich solle einen besseren Menschen aus ihm machen." 1962 wurde ihre erste Tochter Carmen geboren. "Kein Wunschkind. Ein Versehen." Ein Jahr später war die Ehe am Ende.
1965 heiratete Erna F. den Schlosser Adolf F. Im Jahr darauf kam Mario zur Welt. Die Familie zog nach Schwedt, eine triste Industriestadt an der polnischen Grenze. Erna F., die sich zur Stenotypistin weitergebildet hatte, arbeitete als Chefsekretärin in einem Baumaschinenkombinat.
"Mein Papa ist tot! Mein Papa ist tot!"
Als Mario vier Jahre alt war, hatte die Familie einen schweren Verkehrsunfall. Ein Lastwagen verlor seine Ladung. Teile schleuderten durch die Windschutzscheibe, trafen den Vater am Kopf. Mutter und Sohn blieben unverletzt, mussten aber alles mit ansehen. Wie "Rumpelstilzchen" sei Mario durch die Wohnung gesprungen, sagt Erna F. "Mein Papa ist tot! Mein Papa ist tot!", habe er geschrien.
Doch Adolf F. überlebte, blieb Monate im Krankenhaus. Etwa ein Jahr nach dem Unfall brachte Erna F. Tochter Martina zur Welt. Ihr Mann bestritt, der Vater zu sein. "Ich bin nie fremdgegangen. Es ist sein Kind", sagt Erna F. 1974 ließ sich das Paar scheiden. Erna F. stand allein mit den drei Kindern da. Dann kam die Nacht vom 4. auf den 5. November. Am Morgen gegen sechs Uhr rief sie den Notarzt.
Das Gericht vernimmt Peter F. als Zeugen. Er war damals 30 Jahre alt und Assistenzarzt. Inzwischen ist er in Rente, zuletzt war er Chefarzt in Schwedt. "Ich habe das nie vergessen", sagt er. Mario lag im Kinderzimmer in seinem Bett. Trug einen gelben Schlafanzug, hatte Erbrochenes am Mund. Seine Gesichtsfarbe war rosig, wie bei Gasvergiftungen üblich.
"Ich habe sofort an eine Kohlenmonoxidvergiftung gedacht", sagt Peter F. Das Verhalten der Mutter sei ihm merkwürdig vorgekommen. "Marios Mutter war ungewöhnlich gefasst. Sie hat keinerlei emotionale Entladung gezeigt, wie es wohl beim Tod des eigenen Sohnes üblich gewesen wäre." Erna F. erzählte ihm damals, dass ihr Sohn am Gasherd gespielt haben müsse. Der Notarzt glaubte ihr nicht. "Es roch nicht nach Gas." Zudem hätten die Mutter und Marios Schwestern keinerlei Vergiftungserscheinungen gezeigt. "Das hat alles nicht gepasst."
Auch mit Kreisstaatsanwalt Bruno G. will der Arzt über seinen Verdacht gesprochen haben. "Die Schuldfrage kann nicht geklärt werden", habe G. abgewiegelt. "Er sagte: Es macht ja auch keinen Sinn, den Kindern die Mutter wegzunehmen." Ein schlimmer Verdacht, der da plötzlich im Raum steht. Hat der Staatsanwalt nicht ermittelt, um Erna F. zu schonen? Und wenn ja, warum? Die Angeklagte hört regungslos zu. Gegenüber der Polizei hat sie ausgesagt, G. privat nicht gekannt zu haben.
"Wir waren zwar ihre Kinder, aber wir waren wie Haushaltsgegenstände"
Ihre Tochter Carmen W. ist für den nächsten Tag als Zeugin geladen. Sie war zwölf Jahre alt, als ihr Bruder starb. Sie nennt ihre Mutter nur "Frau F.". Der Richter will wissen, warum. Sie antwortet: "Weil unser Familienleben nicht so war, wie man sich das vorstellt." Carmen W. schildert ihre Kindheit, sagt Sätze wie: "Wir waren zwar ihre Kinder, aber wir waren wie Haushaltsgegenstände." Oder: "Wir hatten immer Angst vor ihr." Und: "Wir störten ja nur. Vor allem abends, wenn Frau F. Herrenbesuche bekam." Ihre Mutter habe viele Männerbeziehungen gehabt. Darunter sei auch ein Staatsanwalt gewesen. Ob es der Staatsanwalt war, der nach dem Tod ihres Bruders gegen ihre Mutter ermittelte, kann Carmen W. nicht sagen.
Vor allem Mario habe sehr unter seiner Mutter gelitten. "Ihm wurde vorgeworfen, verhaltensauffällig zu sein, aber ich denke, er brauchte nur Zuwendung." Carmen W. erzählt, wie "lebhaft" ihr Bruder gewesen sei. Dass er gern zu den Gleisen lief, den Zügen nachsah, die er sehr liebte. Anders als die Schule, die er dauernd schwänzte.
Carmen W. schildert den Abend vor seinem Tod. Sie und ihre kleine Schwester Martina hätten im Schlafzimmer der Mutter übernachten müssen. "Wir schliefen sonst immer zu dritt im Kinderzimmer." Obwohl es draußen kalt gewesen sei, hätten sie die Fenster öffnen müssen. "Das durften wir sonst nie." Mario habe allein im Doppelstockbett schlafen müssen.
Am Morgen sei sie vom "fürchterlichen Geschrei" ihrer Mutter geweckt worden. In der Wohnung seien Leute herumgerannt. Der Notarzt, Polizisten. "Irgendwann sagte jemand: Der Mario ist tot."
Am nächsten Tag habe ihre Mutter sie in die Küche an den Gasherd geführt. "Wenn die Polizei dich fragt, sagst du, dass der Knopf so gestanden hat", habe Erna F. gesagt und den Gashahn aufgedreht. Kein Wort habe die Mutter danach über Marios Tod verloren. "Unser Leben ging normal weiter." Zwei Jahre später habe die Mutter sie mit 14 in den Bus gesetzt und zum Vater nach Berlin geschickt. "Sie hat nicht mal gefragt, ob ich angekommen bin" , sagt Carmen W. "Kinder passten nicht in ihr Lebenskonzept. Jedenfalls nicht drei." Der Kontakt zur Mutter sei dann abgebrochen.
Tochter wollte "klare Verhältnisse" schaffen
Richter Udo Lechtermann zieht einen Brief aus der Akte und liest ihn vor. Er stammt aus dem Jahr 2006, drei Jahre bevor die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft in Hannover einging. "Guten Tag, Erna, als deine Tochter melde ich hiermit mein Recht auf Auszahlung des Pflichtanteils an." Carmen W. wollte schon zu Lebzeiten an das Erbe der Mutter. Die Tochter windet sich, als der Richter wissen will, warum sie diesen Brief geschrieben hat. Sie habe "klare Verhältnisse" schaffen wollen.
"Glauben Sie, dass Ihre Mutter etwas mit dem Tod Ihres Bruders zu tun hat?", fragt Lechtermann die Zeugin direkt. "Ich denke schon, dass sie es geplant hat", antwortet Carmen W. "Hassen Sie Ihre Mutter?" – "Nein." Ob sie die Anzeige geschrieben habe? "Nein." Wer es denn gewesen sein könnte? "Da kommen viele infrage. Nachbarn aus dem Haus, Verwandte, Arbeitskollegen, Freunde."
Tatsächlich reden auch die anderen Zeugen nicht gut über Erna F. Ihr geschiedener Mann Adolf, der Vater von Mario, hat Schwierigkeiten, sich zu erinnern, Spätfolgen des Verkehrsunfalls. Nur eines weiß er sicher: Dass er nach der Geburt von Martina 1971 bei Staatsanwalt G. gewesen sei, um die Vaterschaft anzufechten. Die Behörde war zu DDR-Zeiten für Kindschaftssachen zuständig. Staatsanwalt G. habe ihn abgewimmelt, sagt Adolf F. "Er wollte eine werktätige Mutter nicht so hart befragen. Der hat das untern Tisch fallen lassen."
Auch Zeugin Renate B., eine ehemalige Kollegin, berichtet von einflussreichen Männern, mit denen Erna F. verkehrt haben soll. Ein Rechtsanwalt sei darunter gewesen, ein Polizist. Und Staatsanwalt G. "Der kannte sie gut" , sagt Renate B. In der Firma hätten die Kollegen "gemunkelt", dass Erna F. neben ihrem Job als Sekretärin anschaffen ging. Sie habe mehr Urlaub bekommen als alle anderen – und sei immer zur Leipziger Messe verreist gewesen. Zwar gab es in der DDR offiziell keine Prostitution. Auf der Leipziger Messe wurde sie allerdings geduldet. Die Stasi warb sogar gezielt Frauen aus anderen Berufen an, um Messegäste aus dem Westen auszuspionieren. Deshalb gerieten Frauen, die zur Messezeit frei hatten, schnell in den Verdacht, nebenher als Prostituierte zu arbeiten.
Ein Sittengemälde der DDR?
Die Stasi-Akte von Erna F., die dem stern vorliegt, ist dünn. Vier Seiten. Marios Tod wird mit keinem Wort erwähnt, als hätte es ihn nie gegeben. Erna F. war wegen versuchten Betrugs und Urkundenfälschung vorbestraft. Sie hatte einer Kollegin 1980 Schecks gestohlen, sie gefälscht, sich Geschirr und Bettwäsche von dem Geld gekauft. Erna F. wurde zu einem Jahr und sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, verlor ihren Job als Sekretärin, arbeitete als Garderobiere in der Gastronomie. Dass sie sich prostituiert haben soll, erwähnt die Akte nicht. Erna F. wollte ausreisen. Ärger mit der Obrigkeit bekam sie deswegen nicht, und Ende 1987 durfte sie die DDR tatsächlich verlassen. Sie zog zu ihrer Tante nach Hannover.
All das gibt der Fantasie reichlich Nahrung. Ein Staatsanwalt, der eine Vaterschaftsanfechtung ausgerechnet im Fall einer Frau abschmettert, mit der er eine Affäre haben soll. Drei Jahre später verhindert derselbe Staatsanwalt ernsthafte Mordermittlungen gegen ebendiese Frau. Die wiederum, selbst straffällig, soll, so munkelt man, einflussreichen Männern zu Willen sein – und bekommt Vergünstigungen, von denen andere nur träumen, bis hin zur Ausreise in den Westen, der sie im Übrigen endgültig vor dem Zugriff der Justiz zu schützen scheint. Und von all dem steht in den Akten des ansonsten eifrigen Überwachungsstaates nichts. Ein Sittengemälde der DDR?
Zu diesem Sittengemälde gehört allerdings ebenso eine oft große Prüderie. Geht womöglich auch mit den Zeugen, die gegen Erna F. aussagen, die Fantasie durch? Vielleicht, weil die attraktiv und geschieden war? Weil sie Männer zu Hause empfing und Kinder von verschiedenen Vätern hatte? "Der Volksmund vergab die Bezeichnung ‚Nutte‘ großzügig an jede, die allzu offensichtlich die sexuellen Normen verletzte", schreibt Uta Falck in ihrem Buch "VEB Bordell. Geschichte der Prostitution in der DDR".
Profiler Andreas Tröster im Interview 16.55Im Zuschauerraum sitzt eine ehemalige Nachbarin von Erna F. Sie verpasst keinen Prozesstag, notiert mit akkurater Handschrift alles in eine schmale Kladde. Warum? "Weil ich die Kinder kannte", sagt sie in der Verhandlungspause. "Und um den Nachbarn von dem Prozess zu erzählen." Die Frau ist, wie viele im Saal, überzeugt, dass Erna F. ihren Sohn ermordet hat. Sie hat sogar der Staatsanwältin einen Tipp gegeben, wie sie die Tat ins Werk gesetzt haben könnte: Die Mutter könne das Gas mit einem Lappen "eingefangen" und dem schlafenden Kind "aufs Gesicht gedrückt haben" . Das hätten sich jedenfalls die Leute in Schwedt erzählt.
Im Gerichtssaal fragt Staatsanwältin Bargenda den Rechtsmediziner Wolfgang Mattig, ob es möglich sei, jemanden so mit Kohlenmonoxid zu vergiften. Sie muss jedem Hinweis nachgehen. "Ausgeschlossen" , sagt der Sachverständige. Doch auch er glaubt nicht an einen Unfall. Dafür gebe es "keine schlüssige Erklärung" . "Wenn Mario in der Küche aufgefunden worden wäre, hätte ich kein Problem mit der Unfallhypothese." Allerdings hätte dann jemand den Gashahn wieder schließen müssen. Auch dass Mario am Gasherd geschnuppert und sich danach ins Bett gelegt hat, hält der Mediziner für ausgeschlossen. "Dann stirbt man nicht." Erna F. ist leichenblass. Es sieht schlecht für sie aus. Ihre Tochter hat sie schwer belastet, der Rechtsmediziner glaubt nicht an einen Unfall.
Briefe sollen Kontakt zur Mutter beweisen
Doch dann, am sechsten Verhandlungstag, reicht ihr Anwalt den Richtern einen Stapel Briefe. Sie sollen beweisen, dass Carmen W. – anders als sie behauptet hat – über Jahre zur Mutter im Westen Kontakt gehalten hat. Carmen W. muss noch einmal aussagen. Der Richter liest ihr aus den Briefen vor. "Vielen Dank für das Geburtstagspaket", schrieb Carmen W. ihrer Mutter im Wendejahr 1989. Kurz darauf bedankte sie sich auch "recht herzlich für das schöne Weihnachtspaket. Da sieht man, was es bei Euch für schöne Sachen gibt." In Briefen Jahre später ging es um Geld. Erna F. hatte fast 125.000 Mark in einen Fonds investiert. Die Tochter sollte den Fonds auflösen und sich das Geld auszahlen lassen. Doch bei der Bank stellte sich heraus, dass die Einlage verloren war. "Eine Fehlinvestition", schrieb die Tochter ihrer Mutter.
Als der Richter wissen will, was diese Korrespondenz zu bedeuten habe, weicht Carmen W. aus. "Kann mich nicht erinnern, muss schon lange her sein" , sagt sie. "Hier entsteht der Eindruck, dass Sie uns was verschweigen wollen", entgegnet Lechtermann. "Und das ist ärgerlich."
Vielleicht ist das der Wendepunkt in diesem Prozess. Carmen W. klang glaubwürdig, als sie das Drama ihrer Kindheit schilderte. Doch die Glaubwürdigkeit ist dahin. Erna F. scheint zu begreifen, was da gerade im Saal geschieht. Ihre Mundwinkel zucken leicht, wie ein Lächeln, das sie in Schach halten will. Es ist das erste Mal, dass diese Frau Gefühle zeigt.
Das Gericht will im September sein Urteil fällen. Ob es auch die Wahrheit findet, ist ungewiss.
Marios Grab sucht man auf dem Neuen Friedhof in Schwedt vergebens. Es hatte die Nummer 223, Abteilung 8. "Die Grabstelle wurde nach Auslaufen der Liegezeit eingeebnet", schreibt die Pressestelle der Stadt. "An ihrer Stelle befindet sich heute eine Rasenfläche."
Diese Reportage ist übernommen aus dem aktuellen stern