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Praia da Luz Das große Schweigen im Ferienparadies: Über Madeleine will kaum jemand reden

Maddie McCann: Dreizehn Jahre vermisst – eine Chronologie
Sehen Sie im Video: Das Verschwinden von Maddie McCann – die Chronologie des Falls.


Maddie McCann war nicht einmal vier Jahre alt, als sie im Mai 2007 aus dem Ferienappartment ihrer Eltern an der Algarve verschwunden ist. Seitdem haben Ermittler aus Portugal und Großbritannien versucht, die Tochter von Kate und Gerry McCann zu finden - ohne Erfolg. Eine Chronologie des wohl aufsehenerregendsten Vermisstenfalls der letzten Jahrzehnte.


Mai 2007: Kurz vor ihrem vierten Geburtstag verschwindet Maddie aus einer Ferienanlage an der portugiesischen Algarve-Küste. Madeleines Mutter fleht im Fernsehen mögliche Entführer an, das Kind freizulassen. Fotos des blonden Mädchens gehen um die Welt.


September 2007: Die Eltern gelten zu diesem Zeitpunkt als Verdächtige. Medien berichten, die Polizei gehe von einem Unglücksfall aus - die Eltern hätten die Leiche verschwinden lassen.


Juli 2008: Die portugiesische Polizei stellt die Ermittlungen ohne Ergebnis ein. Für ein Verbrechen gebe es keine Beweise. Januar 2009: Ein Team ehemaliger Fahnder von Scotland Yard hat sich nach britischen Medienberichten im Auftrag der Eltern auf die Suche nach Madeleine gemacht. Ein Geschäftsmann finanziere die Aktion.


Mai 2009: Zwei Jahre nach Maddies Verschwinden flehen die Eltern mögliche Entführer erneut an, ihre Tochter freizulassen. Sie nutzen dazu ein Gespräch mit US-Talkmasterin Oprah Winfrey, das Millionen Zuschauer sehen.


März 2011: Madeleines Eltern protestieren vergeblich gegen den Verkauf eines Buches, das der portugiesische Ex-Chefermittler Gonçalo Amaral über den Fall geschrieben hat. Er vertritt die These, das Kind sei bereits im Urlaubshotel der Familie gestorben und nicht entführt worden. Die Eltern hätten mit dem Verschwinden zu tun, schreibt Amaral.


Mai 2011: Die Mutter, Kate McCann, veröffentlicht ein Buch mit ihrer Version der Geschichte. Die Ermittlungsakten würden erneut überprüft, kündigt der damalige britische Premierminister David Cameron an.


April 2012: Laut britischer Polizei ist Maddie möglicherweise noch am Leben. Es gebe Anhaltspunkte für Ermittlungslücken.


Oktober 2013: Die portugiesischen Behörden nehmen die Ermittlungen wieder auf, da es neue Indizien gebe.


Juni 2014: Eine erneute Suche nach Spuren des verschwundenen Mädchens auf drei Brachflächen in der Nähe der portugiesischen Ferienanlage bringt keine Hinweise.


April 2017: Die britische Polizei hat die Hoffnung auf eine Lösung des Falls nicht aufgegeben. Vier Beamte seien weiter mit einer kleinen Zahl von entscheidenden Ermittlungssträngen" befasst, teilt Scotland Yard mit.


Oktober 2017: Die britische Polizei hat offenbar eine neue Spur, berichtet die Tageszeitung "Times". Es werde nach einer „Person von Bedeutung“ gesucht, heißt es in einem Bericht der Scotland-Yard-Sonderkommission "Operation Grange". Sie befasst sich seit mehreren Jahren mit dem Verschwinden des kleinen Mädchens. Für die Suche nach der "Person von Bedeutung" wurden rund 175.000 Euro bereitgestellt. Die Ermittlungen haben damit bislang mehr als 13 Millionen Euro gekostet.


März 2019: Netflix zeigt die Dokumentationsreihe "Das Verschwinden von Madeleine McCann". Kate und Gerry McCann stehen der Serie kritisch gegenüber.


Juni 2020: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen einen 43-jährigen Deutschen, der mehrfach wegen Sexualstraftaten auch an Kindern vorbestraft sei. In der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY… ungelöst" wird der Ermittlungserfolg aufgegriffen. Christian Hoppe, leitender Kriminaldirektor beim BKA in Wiesbaden, hofft auf weitere Hinweise. In der Sendung werden auch die Fahrzeuge gezeigt, die der Tatverdächtige in Portugal nutzte. Der Mann verbüße derzeit in anderer Sache eine längere Haftstrafe.

In Deutschland glauben viele, den Mörder von Madeleine McCann gefunden zu haben. Gibt es am Tatort an der Algarve Erleichterung, gar Jubel? Nein. Dort herrscht vielmehr Angst  – vor einem neuen "Medienspektakel".

Den Namen Madeleine McCann erwähnen sollte man lieber nicht, will man mit einem der rund 3500 Bewohner von Praia da Luz ins Gespräch kommen. "Kaum jemand will hier öffentlich über das Thema sprechen", sagt auch ein Reporter des portugiesischen TV-Nachrichtensenders "TVI24". Seit dem spurlosen Verschwinden des damals knapp vierjährigen britischen Mädchens aus einer Ferienanlage im beschaulichen Örtchen an der Algarveküste im Mai 2007 fühlt man sich hier stigmatisiert.

Die Hoffnung, der Fall möge nach 13 Jahren endlich langsam in Vergessenheit geraten, machten jetzt die Nachrichten aus Deutschland mit einem Schlag zunichte.

Am "Strand des Lichts" löst die Nachricht, dass ein 43 Jahre alter Mann, der in Kiel hinter Gittern sitzt, der Entführung und Ermordung von Maddie verdächtigt wird, keine Erleichterung aus und erst recht keinen Jubel. Vielmehr werden alte Wunden aufgerissen. Erinnerungen an das lange Zittern um Maddie vor 13 Jahren werden wieder wach - aber auch an die "schlimmen Kollateralschäden", wie ein Barbetreiber sagt, der namentlich nicht genannt werden möchte.

Er und viele andere erinnern sich nun wieder mit Schrecken daran, wie damals der für die Region lebenswichtige Tourismus nach dem Verschwinden des Mädchens für einige Jahre deutlich zurückging. "Und viele der Touristen, die kamen, sahen uns schief und misstrauisch an."

Der Appartmentkomplex in Praia da Luz an der portugiesischen Algarveküste
Der Appartmentkomplex in Praia da Luz an der portugiesischen Algarveküste, aus dem Madeleine McCann am 3. Mai 2007 verschwand.
© Armando Franca / DPA

"Ihr Spektakel aufgezogen": Vorwürfe an die Eltern von MadeleineMcCann

"Diese Leute (gemeint sind Maddies Eltern und die britischen Medien) haben gar nicht an die Menschen hier gedacht, als sie 2007 ihr Spektakel aufgezogen haben", sagte Ana im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa im Mai 2017. Die Frau, die an der Strandpromenade von Luz heute noch Schmuck verkauft und Tattoos macht, forderte damals, als der Ort zum 10. Jahrestag des Maddie-Verschwindens zum x-ten Mal einen Journalisten-Ansturm erlebte: "Langsam muss Schluss sein mit dem Zirkus". Ein Kollege von Ana bedauerte, Luz sei "zum Zentrum des Bösen" gemacht worden.

Der Ärger hält im Jahr 2020 noch an. In Vila da Luz befürchtet man ein neues "Medienspektakel", etwa bei einer neuen Suche nach der Leiche, das dem Image und der Wirtschaft der Region wieder Schaden zufügen könnte - noch dazu mitten im Pandemie-Stress.

Aber nicht nur in Praia da Luz ist Unmut zu spüren. Wenn man Portugiesen nach ihren Gefühlen und Gedanken zu der neuen Entwicklung im Fall Maddie befragt, dann kommt auch in Lissabon die Antwort fast unisono über die Lippen: "So viele Kinder verschwinden tagtäglich, wieso wurde ausgerechnet um diesen Fall so viel Aufhebens gemacht? Fragt sich das jemand mal? Wir haben gerade Pandemie und Sozialkrise", sagte am Donnerstag die Hauptstadt-Rentnerin Maria hörbar empört am Telefon. Der Barbetreiber in Luz wird noch lauter.

Er schimpft: "Über die kleinen Portugiesen, die verschwinden und womöglich auch von Ausländern entführt wurden, hört und liest man in den Medien nach zwei oder drei Wochen nichts mehr, schon gar nicht im Ausland."

Doppelmoral bei Medien und Behörden?

Auch die angesehene Anwältin Sofía Matos, die im portugiesischen Fernsehen beim Anblick von Maddie-Videos sichtlich bewegt war, kommt bei allem Mitgefühl für die Familie des Mädchens nicht umhin, auf eine gewisse Doppelmoral bei Medien und Behörden hinzuweisen. "Was wir bei alldem auch nicht vergessen dürfen ist, dass in Portugal viele andere Kinder verschwunden sind, die nicht das Glück einer internationalen Polizeikooperation hatten wie im Fall Maddie."

Matos erinnert an den Fall von Rui Pedro: Der Junge verschwand 1988 im Alter von elf Jahren spurlos. Mutter Filomena identifizierte ihren Sohn 15 Jahre später auf dem Portal eines internationalen Kinderpornografie-Rings. Hoffnung kam kurz auf, aber am Ende brachte das nichts. Hilfe und Hinweise aus dem Ausland blieben aus. Rui Pedro ist bis heute verschwunden. Medien in Portugal und die Zeitung "El País" im Nachbarland Spanien stellten fest, es gebe "Opfer erster und zweiter Klasse".

Wenige positive Reaktionen gibt es auch von den Experten, die von den portugiesischen Medien zu den Nachrichten aus Deutschland befragt werden. Die britische Polizei habe ein sehr gutes Budget, mit dem sie sehr viele Informanten bezahlen könne, sagte im TV der frühere Kripo-Koordinator Carlos Carmo. "Von Zeit zu Zeit gibt es daher einen neuen Verdächtigen, aber es sieht nicht so aus, als ob man konkrete Beweise hat", meint er. In die gleiche Kerbe schlägt der frühere Polizeiinspektor Paulo Santos. "Wir haben zu diesem Zeitpunkt sehr wenig, um behaupten zu können, dass es einen Durchbruch bei den Ermittlungen gegeben hat." Die Kripo Portugals, die Policia Judiciaria, will auf Anfrage nichts Näheres sagen.

"Alle glauben zu wissen, was damals passiert ist"

In Praia da Luz findet der Reporter von "TVI24" derweil doch noch eine Portugiesin, die bereit ist, etwas zu Madeleine McCann zu sagen. Der jungen Luz-Bewohnerin Catarina Marques sieht man trotz Corona-Schutzmaske die Empörung im Gesicht an. "Alle Jahre wieder kommen die Leute hierher, um über diese Sache zu sprechen", klagt sie. Und dann spricht sie das aus, was man hier immer wieder hört: "Alle glauben zu wissen, was damals passiert ist". "Was?", fragt der Reporter. "Dass es die Eltern waren, das denken alle hier in Luz."

Diese hoch umstrittene These vertrat und vertritt bis heute auch der der erste Chefermittler des Falles, Gonçalo Amaral. Der heute 60-Jährige wurde damals schon nach wenigen Monaten nach Kritik an den britischen Behörden vom Fall abgezogen. Er ließ sich daraufhin pensionieren und schrieb das Buch "Die Wahrheit über die Lüge". Darin und in Interviews behauptet er immer wieder: Maddie ist tot, die Eltern haben den Tod vertuscht. Jetzt, angesichts eines inhaftierten Verdächtigen in Deutschland, hat sich Amaral bisher nicht zu Wort gemeldet.

Emilio Rappold / anb DPA

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