Richard Challen saß gerade am Küchentisch und aß sein Mittagessen, als seine Frau einen Hammer aus ihrer Handtasche zog und von hinten auf ihn einschlug, 37 Mal. So erzählt es die BBC-Dokumentation "The Case of Sally Challen", auf Deutsch "Der Fall Sally Challen", über die mittlerweile berüchtigte Tat der damals 56-jährigen Britin aus Claygate, 14 Meilen südwestlich von London.
2011 wurde Sally Challen wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Doch abgeschlossen war der Fall damit noch lange nicht. Die Frau, die ihren eigenen Mann mit einem Hammer getötet hat, ging mit dem "Fall Sally Challen" in die Geschichte Großbritanniens ein. Erst vor wenigen Tagen erschien ihr Name erneut in Boulevardblättern wie der britischen "Daily Mail". Die Überschrift, die auf den ersten Blick nur schwer nachvollziehbar erscheint: Sally Challen, die einst ihren Mann tötete, soll nun sein gesamtes Anwesen im Wert von mehr als einer Million Euro erhalten. Die Aufregung in den sozialen Medien war groß. Erst ein Blick auf die Hintergründe der Tat verdeutlicht, warum ausgerechnet Sally Challen ein Recht auf das Haus ihres getöteten Ehemannes hat – und warum sie nach neun Jahren und vier Monaten Gefängnis nun in Freiheit lebt.
Challen erzählte den Beamten nur einen Teil der Geschichte
In der detaillierten BBC-Dokumentation ist das aufgezeichnete Verhör der Kriminalbeamten mit der Täterin zu hören. "Ich weiß nicht, warum ich es getan habe", sagte die blonde Frau mit den traurig herunterhängenden Mundwinkeln kurz nach der Tat. Und dann: "Ich will nicht, dass irgendjemand ihn haben kann, wenn ich ihn nicht haben kann." Ihr Motiv schien damals klar: Eifersucht. Zum Zeitpunkt der Tat lebte das Paar getrennt voneinander. Doch Sally Challen hatte weiterhin Zutritt zu dem Haus ihres Mannes.
Sie gab zu, wütend gewesen zu sein. Um ihrem Mann nachzuspionieren, habe sie die Telefonnummer gewählt, mit der er das letzte Mal vom Festnetz telefoniert hatte. Als sie eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung vernommen habe, sei sie in Rage geraten. Sally Challen widersprach den Beamten kein Mal und beantwortete all ihre Fragen. Dass sie nur einen Teil der Geschichte erzählte, sollten sie erst viel später erfahren. Nach einem Jahr im Gefängnis wandte sich Sally Challen an die Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Harriet Wistrich. Ihr erzählte sie die nach eigener Aussage wahren Hintergründe der Tat.
Auf einmal ging es nicht mehr "nur" um Mord
Der Sender blendete einen Teil der dokumentierten Aussagen Challens ein. Demnach gab sie zu Protokoll, dass ihr Mann sie jahrelang missbraucht habe, vor allem emotional, aber auch physisch. Laut Challen vergewaltigte ihr Mann sie, wenn sie keine Lust auf Sex hatte und stellte Regeln auf, wie die, dass sie ihren Mann nicht mehr unterbrechen dürfe. Er habe unter einem Kontrollzwang gelitten. Habe sie die Regeln nicht befolgt, habe er sie brutal bestraft. Nach ihren Aussagen wurde der Fall erneut geöffnet. Es begann ein Verfahren, das die britische Zeitung "Guardian" als "einen neunjährigen Streit um Gerechtigkeit" bezeichnet. Denn bei dem Fall ging es nicht mehr allein um Mord, sondern nun auch um eine Frau, die mehr als 40 Jahre lang häuslicher Gewalt ausgesetzt war. Und um eine Frau, die sich mehr als 40 Jahre lang niemandem anvertraut hatte.
Die Ermittler und ihre Anwältin Wistrich fanden Beweise für Challens Aussagen. Sie befragten Familie und Freunde des Paares und fanden Emails von Sally und Richard Challen, aus denen hervorging, wie schlecht ihr Mann sie behandelt hatte. Ein Psychiater diagnostizierte depressive Symptome bei ihr. Auch zum Zeitpunkt ihrer Tat sei sie bereits krank gewesen – der Einfluss ihres Mannes sei dabei offensichtlich.
Als die neuen Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, versammelten sich Frauenrechtlerinnen mit "Free Sally!"-Schildern vor dem Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey in London. Die meisten waren sich einig: Dieser Frau war Unrecht widerfahren, lange bevor sie selbst sich gewehrt hatte. Doch ob das den Schweregrad ihrer Tat mindern würde, würde allein das Gericht entscheiden.
Sally Challen: "Ich schätze, es ergibt keinen Sinn"
Erst im vergangenen Jahr fiel das endgültige Urteil im Old Bailey: Aufgrund der Umstände ihrer Tat, ihrer psychischen Krankheit und der bereits in Haft verbrachten Jahre durfte Sally Challen das Gefängnis nach neun Jahren und vier Monaten verlassen. Das Gericht urteilte, dass es sich nicht mehr um einen Mord, sondern um Totschlag handelte. Damit verkürzte sich die Haftstrafe und Sally Challen war frei. Aufnahmen nach der Verhandlung zeigen eine vor Glück weinende Frau, die mit den gemeinsamen Söhnen zurück nach Hause fährt. Nach all den Jahren, nach allem, was vorgefallen war, trug Challen noch immer ihren Ehering. "Ich habe das Ideal von Richard geliebt, wenn das Sinn ergibt. Ich schätze, es ergibt keinen Sinn", sagte sie dem britischen "Telegraph".

Vor wenigen Tagen nun erregte der Fall erneut das öffentliche Interesse. Der High Court in Bristol urteilte, dass die heute 66-jährige Sally Challen ein Recht auf das Haus ihres getöteten Mannes habe. Der Richter begründete sein Urteil damit, dass der Ehemann sich seiner Frau gegenüber mehr als 40 Jahre lang "verachtend, erniedrigend, aggressiv und gewalttätig" verhalten habe. Richard Challens Haus im Wert von einer Million Pfund, also etwa 1,1 Millionen Euro, gehört jetzt seiner Frau.
Für die einen, das zeigen Kommentare in den sozialen Medien, ist es ein nicht nachvollziehbares Urteil. Die anderen feiern Sally Challen als eine Frau, die sich öffentlichkeitswirksam gegen häusliche Gewalt eingesetzt und damit auch anderen in ihrer Ehe misshandelten Frauen Mut gemacht habe: nicht dazu, Totschlag zu begehen, aber dazu, die Stimme zu erheben und auf angetanes Unrecht aufmerksam zu machen. Der "Guardian" bezeichnete den Fall Sally Challen als "den Fall, der alles für Frauen verändert".