Es heißt, die Bauern von Kalkstein, einem Osttiroler Bergdorf in 1641 Meter Höhe, kämen im Jahr nur zweimal herunter ins Tal, im Sommer mit den Gerölllawinen und im Winter mit dem Schnee.
Alte Geschichten sind das, Legenden, zu Sprichwörtern erstarrte Wörter, die heute so herumstehen in der Welt wie die Berge ringsum.
PIUS
Man müsste die Toten fragen, was wahr ist und was bloß erfunden, aber sie reden nicht mehr, es ist genug. Sie liegen im Schatten des Kirchturms von Maria Schnee in der Erde. Sie sind im Kindbett gestorben, in den Stuben, auf den Feldern, im Eis, trotz der Gebete, trotz der ganzen Knierei vor dem Gekreuzigten, sie sind erfroren und verhungert und wurden von der Pest dahingerafft, als mit den Nachbarn der Tod an die Stubentür klopfte.
Dieser Text wurde vom Reporter:innen-Forum als beste freie Reportage mit dem Reporter:innen-Preis 2022 ausgezeichnet. In der Laudatio wurde unter anderem "die archaische, barocke Sprache des Autors – die heraussteche aus der Schmucklosigkeit, mit der heute viele Reportagen geschrieben seien" gelobt.
Dreizehn Gräber umringen die kleine Kirche, wie Kinder, die darauf warten, einander im Reigen an die Hand zu nehmen; zwölf schmale Kreuze aus Eisen, ein Grab ist groß und breit und aus hellem Stein.
Ein junges Gesicht, breite Koteletten, ist in diesen Stein gemeißelt. „Hier ruht Pius Walder“, steht da, und: „Ich wurde am 8. September 1982 in Kalkstein von zwei Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig und gezielt beschossen und vom 8. Schuss tödlich in den Hinterkopf getroffen.“
Ein Friedhof soll still sein, friedlich, kein Ort des Streits oder der Rache. Doch vieles ist anders in Kalkstein, seit diesem Abend vor fast 40 Jahren. Seitdem geht ein Riss durchs Dorf, man kann ihn manchmal noch spüren. Es heißt, Gott vergebe, ein Tiroler nie.
Damals hallten Schüsse durchs Tal, immer wieder krachte es, als schlüge der Leibhaftige die Faust gegens Kirchentor.
Wie starb Pius Walder? Was ist wahr? Wie oft muss man etwas erzählen, bis es wahr wird?