Expertinneninterview Wie viele von ihnen leben noch? Wie viele haben es nicht geschafft? Wie viele sind jetzt kriminell?

Von Annett Heide
Gina Graichen
Gina Graichen
© Benjamin Zibner
26 Jahre lang hat Gina Graichen eine in Deutschland einzigartige Dienststelle der Polizei geleitet: ein Kommissariat, das sich um vernachlässigte und misshandelte Kinder kümmert. Ein Gespräch über das Grauen in der Nachbarwohnung

Frau Graichen, fast Ihr gesamtes Berufsleben lang haben Sie sich mit dem Schicksal von gequälten Kindern in Berlin befasst. Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders nahe gegangen ist?

Wir hatten etwa ab dem Jahr 2000 eine ganze Serie von schweren Misshandlungen und Tötungen von Kindern. Eins ist verhungert, eins wurde totgeschlagen, eins in einen Müllschlucker geworfen. Am schlimmsten war für mich aber der Fall eines Säuglings, der erstochen in der Babyklappe des Krankenhauses Waldfriede in Zehlendorf gefunden wurde.

Wer legt denn ein Kind in eine Babyklappe, nachdem er es getötet hat?

Wenn das so einfach zu beantworten wäre. Ich habe damals die Ermittlungsgruppe geleitet, und es lastet mir noch immer schwer auf der Seele, dass ich dieses Verbrechen nicht aufklären konnte. Allerdings darf man sich nicht lähmen lassen, es kommen ja immer neue Fälle, für die man seine Kraft braucht. Im Dezember 2003 konnten wir ein schwer misshandeltes Kind retten. 

Erschienen in stern Crime 23/2019