In Anthropologie stecken die altgriechischen Wörter für Mensch und Wissen – es geht ganz allgemein um das Wissen über den Menschen. Als Anthropologin beschäftigt sich Alexa Hagerty vor allem mit dem Menschen als sozialem Wesen in gesellschaftlichen Zusammenhängen, sie ist keine Expertin für forensische Anthropologie im eigentlichen Sinn. Aber sie hat zwei Jahre lang mit den Besten der Welt in Guatemala und Argentinien gearbeitet und darüber das ergreifende Buch „Still Life With Bones“ geschrieben. Sie hat darum gebeten, das Gespräch per Videotelefonat zu führen. Hagerty, Amerikanerin, lebt und forscht in Frankreich insbesondere zum Thema Menschenrechte, Überwachungstechnologie und zum Einfluss von künstlicher Intelligenz. Sie sitzt in ihrer hellen Wohnung in Toulouse. Die Zeit in Süd- und Mittelamerika, die Folgen der Militärdiktaturen, die Erinnerungen, die vielen Schicksale, die Arbeit an Massengräbern und im Labor – all das hat Spuren bei ihr hinterlassen. Manchmal pausiert sie während des Interviews, manchmal stockt ihre Stimme, und manchmal werden ihre Augen feucht. Einmal läuten im Hintergrund die Kirchenglocken. Sie sagt: „Na, das passt ja.“
Frau Hagerty, wir möchten gern mit Ihnen über Knochen reden.
Dann lassen Sie uns das tun.
Sie haben in Guatemala und Argentinien mit forensischen Teams Opfer der Militärdiktaturen geborgen und zu identifizieren versucht. Erzählt wirklich jeder Knochen, wie Sie sagen, ein Leben?
Ich komme aus der Sozialanthropologie, beschäftige mich also mit dem Wesen des Menschen, mit Kommunikation und dem Umgang miteinander. Als ich in diesen forensischen Teams meine Ausbildung absolvierte, befand ich mich plötzlich in einer komplett anderen Welt. Das Herzstück meiner Arbeit besteht normalerweise darin, Menschen zuzuhören. Und dann traf ich in der Praxis auf diese Experten, die sich Knochen anschauen und tatsächlich Geschichten in ihnen lesen können. Die das Alter und Geschlecht bestimmen können, die Todesursache. Aber auch Gewohnheiten zu Lebzeiten durch Körperhaltung oder Belastung. Das war mir zuvor nie in den Sinn gekommen. Also ja: Jeder Knochen erzählt ein Leben.