Vierfachmord in den Alpen Entwarnung nach Sprengstoffverdacht

Die verdächtigen Substanzen im Haus der Opfer des Vierfachmordes von Annecy sind nicht explosiv. Unterdessen geht die Suche nach den Motiven weiter. Die Polizei hat neue Erkenntnisse zur Tatwaffe.

Nach dem mysteriösen Vierfachmord in den französischen Alpen sind am Haus der Opfer-Familie in England Bombenexperten angerückt: Bei einer Durchsuchung waren am Morgen "möglicherweise explosiven Substanzen" entdeckt worden. Am Mittag gaben die Spezialisten Entwarnung: Die Substanzen seien ungefährlich. Zuvor waren Gebäude rund um das Einfamilienhaus im Ort Claygate in der Grafschaft Surrey evakuiert worden.

In Frankreich wurde unterdessen festgestellt, dass die Bluttat mit nur einer Waffe verübt worden ist. Das verlautete am Montag aus Ermittlerkreisen, nachdem Spezialisten der französischen Polizei die rund 25 am Tatort gefundenen Patronenhülsen und die Kugeln untersucht hatten, mit denen die Opfer getötet wurden. Abgegeben wurden die Schüsse aus einer Automatikpistole vom Kaliber 7,65 Millimeter.

Auch die Identität der bei dem Blutbad getöteten älteren Frau konnte geklärt werden. Wie die Staatsanwaltschaft in Annecy bekanntgab, handelt es sich um die Großmutter mütterlicherseits der beiden kleinen Mädchen, die das Attentat überlebten.

Es war zwar bereits vermutet worden, dass die Frau die Oma war, Zweifel waren aber aufgekommen, weil die überlebende Vierjährige ausgesagt hatte, die Frau nicht sehr gut zu kennen. Die Identität der Frau mit einem schwedischen Pass sei nun mit Hilfe von "in Großbritannien gesammelten Elementen" bestätigt worden.

Weitere Hoffnungen liegen auf den möglichen Aussagen der siebenjährigen Tochter des erschossenen Ehepaares, die aus dem Koma erwacht ist. Das Mädchen hatte die Bluttat schwer verletzt überlebt und war zunächst in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt worden. Wann sie befragt werden kann ist noch unklar. Einmal hat sie starke Beruhigungsmittel bekommen, zum anderen müssen die Ermittler mit dem Kind äußert vorsichtig umgehen. Eine Befragung kann noch Tage dauern.

Ermittler checkten E-Mails und Konten der Opfer

Gegenwärtig versucht die Polizei, über die Familie der Opfer Linie in die Ermittlungen zu bringen. Bevor nun die Bombenexperten anrückten, hatte die Spurensicherung der britischen Polizei das millionschwere Fachwerkhaus der Familie im idyllischen und von betuchter Klientel bewohnten Örtchen Claygate am Wochenende haarklein auseinandergenommen - und mit ihm das Leben der Familie.

"Wir wollen so viel wie möglich über die Familie herausfinden", sagte Eric Millaud von der französischen Staatsanwaltschaft. E-Mails wurden gesichtet, Kontobewegungen studiert, Rechnungen bewertet: Die Polizei versucht, über den Alltag der Opfer ein Motiv herauszuarbeiten. Möglicherweise führt der Beruf des Mannes zum Ziel. Er war als freiberuflicher Ingenieur für Unternehmen der Luft- und Raumfahrtbranche tätig. Hatte er vielleicht zu viel gewusst?

Polizei geht von mindestens zwei Tätern aus

Der oder die Täter gingen jedenfalls genauso brutal wie offensichtlich professionell vor. Jedem der Opfer wurde mindestens zwei Mal in den Kopf geschossen, wie die Staatsanwaltschaft nach der Obduktion erklärte - das typische Vorgehen von Auftragskillern. #link;http://www.thesundaytimes.co.uk/sto/;Die "Sunday Times"# schrieb am Sonntag unter Berufung auf französische Polizeikreise, die Ermittler gingen anhand von Schmauchspuren und ballistischen Untersuchungen von mindestens zwei Tätern aus. Offiziell fahndet die Polizei nach einem grünen Allradfahrzeug und einem Motorradfahrer. Beide wurden von Zeugen in der Nähe des Tatortes gesehen.

Die getötete Familie al-Hilli, seit den 1970er Jahren in Großbritannien, führte in Claygate, etwa 25 Kilometer südwestlich von London gelegen, ein zumindest nach außen hin beschauliches Leben. Der getötete Vater Saad (50) war bekannt bei seinen Nachbarn. "Ein freundlicher Mann", wie alle unisono sagen. Er half, wenn etwas am Haus zu tun war und war als Tüftler bei kniffligen Fällen bekannt. Seine Familie ging ihm über alles. Einige aus dem Ort erinnerten sich, wie er immer seine Töchter in den Arm nahm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.

Britische Boulevardzeitungen spekulieren wild

Wie immer wenn die Polizei nichts genaues weiß, schießen die Theorien ins Kraut - auch in Claygate. Britische Boulevardzeitungen tischen seit Tagen eine wilde Story nach der anderen auf. So soll Saad al-Hilli einmal in den Irak-Krieg verstrickt sein, mal auf der Liste von Geheimdiensten stehen, als Ingenieur für geheime Rüstungsprojekte tätig sein oder sich mit Größen aus dem Regime von Ex-Diktatur Saddam Hussein überworfen haben. Das britische "People"-Magazin brachte sogar die These auf, al-Hilli sei an Forschungen in einem streng geheimen britischen Nuklear-Labor beteiligt gewesen.

Nichts davon hat sich bisher als stichhaltig herausgestellt. So meldete sich am Freitag etwa der Bruder des Toten von selbst bei der Polizei und beteuerte, es habe in der Familie keinen Erbschaftsstreit gegeben. Zuvor hatten Medien spekuliert, die beiden Brüder stritten um das Erbe von Immobilien etwa in Spanien und im Irak.

Die Töchter sind die einzigen Zeugen

Dabei rücken die abenteuerlichen Theorien fast die Brutalität des Verbrechens in idyllischer Umgebung der französischen Alpen in den Hintergrund. Mindestens drei Schüsse haben der oder die Täter auf jedes der Opfer abgefeuert, zwei davon in den Kopf. Das Ehepaar al-Hilli, ein 45 Jahre alter Franzose - Vater dreier Kinder - sowie eine 77 Jahre alte Frau fanden den Tod. Die Mädchen Zeena (4) und Zainab (7) überlebten.

Die kleine Zeena wurde am Sonntag von zwei Mitgliedern der Familie und einer britischen Sozialarbeiterin nach Hause geholt. Beide Kinder stehen unter Polizeischutz. Ihre Rolle bei den Ermittlungen ist tragend: Nicht nur, dass die Vierjährige ihre toten Eltern identifizieren musste - die Mädchen sind auch die einzigen, die den Täter gesehen haben könnten.

DPA
fw/kng/AFP/DPA

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