Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
jeder fünfte Erwachsene in Deutschland kann kaum lesen und schreiben. Das sind 10,6 Millionen zwischen 16 und 65 Jahren, gab die Universität Hamburg nach einer entsprechenden Untersuchung bekannt. Zwar war die Zahl in den vergangenen Jahren demnach immerzu ähnlich hoch, doch macht das den Umstand nicht weniger erschreckend.
Was heißt das konkret? "Sie sind keine Analphabeten, sie können aber nur sehr einfache Texte lesen", erklärt Anke Grotlüschen, die Wissenschaftlerin, die die Untersuchung durchgeführt hat, in der "Zeit". Größere Zusammenhänge zu erschließen, gelänge ihnen nicht. "Auch in kürzeren Texten erkennen sie oft den Sinn nicht."
Viele können nur schlecht lesen – das kann nicht so bleiben
Wer nun gleich "Die Immigranten sind Schuld!" ruft, wird von der Forscherin eines Besseren belehrt. Natürlich habe, wer nur eingeschränkt Deutsch sprechen könne, auch große Schwierigkeiten, Texte zu lesen. "Grundsätzlich erklärt Migration das Problem aber nicht", sagt Grotlüschen, die Mehrheit der Leute, die in der Untersuchung auf dem untersten Level eingestuft sind, seien Deutsche.
Eher liege das Problem in der ökonomischen Spaltung. Dass etwa Schulen in ärmeren Stadtteilen oder auf dem Land mehr mit dem Lehrermangel zu kämpfen haben. Oder dass in Deutschland viel früher als in anderen Ländern über die weiterführende Schule entschieden wird – was soziale Ungleichheit durch das Elternhaus zementiert.

Zwar hat die vorherige Regierung ein "Startchancen"-Programm eingesetzt, das einige benachteiligte Schulen besonders unterstützen soll. Doch dürfte das kaum reichen, um die Lage wesentlich zu verändern. Forscherin Grotlüschen fürchtet eher, dass die Kompetenzen der Erwachsenen in Zukunft noch niedriger ausfallen dürften – weil Schülerinnen und Schüler in Untersuchungen immer schlechter abschneiden.
Damit abfinden sollten wir uns nicht, schon allein, weil wir gute Arbeitskräfte brauchen. Aber auch, darauf weist die Untersuchung hin, weil die, die schlechter lesen können, ihren Mitmenschen weniger vertrauen. Das wiederum gehe mit einer Zustimmung zum Rechtspopulismus einher. Grotlüschen sagt: "Wer Kleingedrucktes nicht lesen kann, wer Zusammenhänge nicht analysieren kann, lässt sich leichter Angst vor anderen Menschen machen."
Merz, Bas und die Suche nach einem gemeinsamen Weg
Friedrich Merz hat seine Reformvorstellungen zum Bürgergeld jetzt mit einer Zahl versehen: Zehn Prozent einzusparen, das müsse ja wohl möglich sein, sagte der Kanzler. Das müsse sogar die "Mindestgrößenordnung" sein, fügte der CDU-Politiker noch an. Bei Ausgaben von rund 50 Milliarden Euro wären das 5 Milliarden Euro.
Es ist eine Ansage an Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas. Die Politikerin von der SPD sieht es zwar auch so, dass im Sozialstaat einiges besser werden muss. Doch hält sie es für nicht realistisch, dass beim Bürgergeld Beträge in dieser Größenordnung eingespart werden können. Als "Bullshit" bezeichnete sie die Debatte sogar vor einigen Tagen.
Ist das Wahlkampfgetöse, weil in Nordrhein-Westfalen die Kommunalwahlen anstehen? Nein, wenn dann nur zum kleinsten Teil. Die Regierung will Reformen bei den Sozialsystemen erreichen, und der Druck ist groß, dass dort auch tatsächlich etwas geschieht – das wissen beide, Union und SPD. Wer verstehen will, wie genau sich der Blick der beiden Parteien auf das Thema unterscheidet und warum, wird mit diesem Text von Nico Fried schlauer.
Irgendwie muss die Regierung daraus noch einen gemeinsamen Weg zimmern. Vielleicht gelingt heute ein Auftakt, nach der Sommerpause kommen Union und SPD zum Koalitionsausschuss zusammen.
Neue "Vogue"-Chefin: Wenn das Leben ein bisschen ist wie im Film
Eine der einflussreichsten Frauen der Modebranche, "Vogue"-Chefin Anna Wintour, hat im Juni ihren zumindest teilweisen Rückzug angekündigt – seit 1988 war sie Chefredakteurin der US-Ausgabe. Seitdem war spekuliert worden, wer ihr nachfolgen würde: Nun hat die 75-Jährige die bisherige Online-Chefin Chloe Malle zur neuen Chefredakteurin ernannt.
Wird die Tochter des bedeutenden französischen Filmregisseurs Louis Malle sich ein ähnliches Vermächtnis wie die übermächtige Wintour aufbauen? Ganz schnell soll es jedenfalls nicht gehen, Wintour bleibt lieber selbst auch noch an Bord, als globale Redaktionsleiterin behält sie sogar ihr Büro auf demselben Flur.
Eine eigene Handschrift zu entwickeln, dürfte da eine ziemliche Herausforderung werden. Vogue, das war doch immer Wintour. Das kann Malle sich nochmals vor Augen führen, wenn sie sich alte Aufnahmen ihrer eigenen Mutter anschaut: Die Schauspielerin Candice Bergen ist unter anderem bekannt für ihre Rolle in "Sex and the City", wo sie eine fiktionale Vogue-Chefredakteurin spielt – unverkennbare Ähnlichkeit? Zu Anna Wintour, war ja klar.
Und sonst? Weitere Schlagzeilen
Das passiert am Mittwoch, dem 3. September
- China hält eine Militärparade zum Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un nehmen teil
- Das Kabinett will Entlastungen bei den Strompreisen auf den Weg bringen, durch einen Zuschuss des Bundes zur Finanzierung der Übertragungsnetzkosten, wodurch die Kostenbelastung der Stromkunden aus den Netzentgelten gedämpft werden soll
- Im Prozess gegen einen Ex-Mitarbeiter von Maximilian Krah, der für China spioniert haben soll, wird heute der AfD-Politiker als Zeuge erwartet
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Unsere Autorin fühlt sich oft zu dick, ihr Körperbild ist gestört, so wie das vieler Frauen. Hier erzählt sie, wie ihre Mutter ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst hat – und was sie jetzt für ihre Töchter anders machen will.
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