Heute vor 35 Jahren Tragödie im Ärmelkanal: Der Untergang der "Herald of Free Enterprise"

Das Foto zeigt die "Herald of Free Enterprise" im Ärmelkanal
Die  Tatsache, dass die "Herald of Free Enterprise" auf eine Sandbank kippte, rettete vermutlich vielen Passagieren das Leben
© David Caulkin / Picture Alliance
Es war das größte Schiffsunglück Großbritanniens seit der "Titanic". Am 6. März 1987 sank kurz nach dem Auslaufen aus dem belgischen Hafen Zeebrugge die Fähre "Herald of Free Enterprise" im Ärmelkanal. 193 Passagiere kamen dabei ums Leben.

Der 6. März 1987 ist ein kalter Wintertag. Die "Herald of Free Enterprise" ist eine Auto- und Passagierfähre, die viermal am Tag im Ärmelkanal zwischen dem belgischen Zeebrugge und Dover hin- und herfährt. Ihr Zeitplan ist straff. Für das Entladen, Säubern und Beladen hat das Personal jeweils nur 90 Minuten Zeit.

Es ist 16 Uhr, als der Zweite Bootsmann an jenem Freitagnachmittag die Entladung des Autodecks für die Rückkehr nach England beendet. Eine halbe Stunde später geht er für eine längere Pause in seine Besatzungskabine. Er wird erst wieder um 18 Uhr auf dem Autodeck gebraucht.

Um 17 Uhr rollen die ersten Autos und Lkw durch die riesigen Bugtore auf das Autodeck. Durch die Ausgabe vergünstigter Tickets ist der Andrang groß und die Besatzung hat nur ein Stunde zum Verladen. Nachdem das untere Autodeck beladen ist, kommt das obere dran. Doch die Laderampe ist zu kurz, weshalb der Kapitän Wasser in die Ballasttanks pumpen lässt, damit sich die Fähre tiefer in das Wasser hinabsenkt und so der Abstand zur Laderampe verkürzt wird.

Um kurz nach 18 Uhr steuert die Fähre auf ihr Unglück zu

Um 18.05 Uhr legt die Fähre am Seehafen ab und steuert auf die eisigen Fluten der Nordsee zu. Da das Schiff verspätet ist, beschleunigt der Kapitän schon bald auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 19 Knoten.

Dann gibt es plötzlich einen Ruck. Auf dem unteren Autodeck dringen innerhalb weniger Sekunden riesige Wassermassen ein. Um 18.28 Uhr neigt sich das Schiff um volle 30 Grad nach Backbord. Noch ehe er einen Notruf absetzen kann, wird der Kapitän zu Boden geschleudert und bewusstlos. Das Schiff kippt zur Seite und das Wasser dringt jetzt durch die Seitenfenster ein. Wie durch ein Wunder landet die 8000-Tonnen schwere Fähre auf einer Sandbank in etwa neun Metern Tiefe, sodass sie nicht untergeht. Ein Umstand, der vielen Passagieren das Leben rettet.  

Ein Schiff, das sich in der Nähe aufhält, sieht die Lichter der Fähre aufflackern und dann ausgehen. Die Besatzung alarmiert den Hafenmeister von Zeebrügge. Der bittet alle Schiffe, die sich in der Nähe aufhalten, der Fähre zu Hilfe zu kommen.

Währenddessen kämpfen die Passagiere im stockdusteren Inneren der Fähre um ihr Überleben. In dem gerade mal drei Grad kalten Wasser droht ihnen der Tod durch Unterkühlung. "Man hörte Menschen rufen und schreien, aber das wurde mit der Zeit immer weniger", erinnert sich ein Augenzeuge in einem TV-Beitrag. Viele Menschen können sich durch Fenster retten. "Wir versuchten, auf die Tische zu steigen und uns über Wasser zu halten. Es gab keine wirkliche Panik, aber einige Leute begannen zu schreien. Dann schlug jemand das Seitenfenster ein, und wir konnten alle herausklettern", erzählt ein britischer Lkw-Fahrer. Ein anderer Brite sprach von einem "Alptraum": "Überall war Wasser, jeder suchte nach einem Ausgang."

193 Menschen sterben beim Untergang der "Herald of Free Enterprise"

35 Minuten nach dem Kentern nehmen Hubschrauber der Küstenwache die ersten Überlebenden auf. Taucher aus der Region, die freiwillig zu Hilfe eilen, schwimmen durch das dunkle Innere der Fähre und retten diejenigen, die sich noch bewegen. An Land transportieren Krankenwagen die Verletzten in nahe gelegene Krankenhäuser. Von den 623 Menschen an Bord überleben 193 das Fährunglück nicht.

Retter bergen Opfer der "Herald of Free Enterprise"
Stunden nach dem Unglück können die Rettungskräfte nur noch Tote aus dem Wrack ziehen (Archivbild)
© Belga / Picture Alliance

Aber wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Als Ermittler die Fähre am nächsten Morgen begutachten, sehen sie, dass die fünf Meter hohen Bugtore der Fähre geöffnet sind. Und sie finden schnell heraus, dass sie nicht durch eine Kollision beschädigt wurden. Eine Befragung der überlebenden Besatzungsmitglieder ergibt, dass der Zweite Bootsmann an jenem Abend für das Schließen der Bugtore verantwortlich war. Doch er hatte sich in seiner Pause zum Schlafen hingelegt und die Durchsage "Alle Mann auf Station" verpasst.

Da die Aufgabe zum Schließen der Bugtore laut Aussage eines Crewmitglieds jedoch auch oft dem Zufall überlassen wurde, hatte auch niemand anderes die offenen Bugtore bemerkt, alle hatten sich auf den Zweiten Bootsmann verlassen. Ein Sicherheitssystem gibt es für solche Fälle an Bord nicht. Der Erste Offizier hätte die Tore eigentlich noch einmal überprüfen müssen, doch weil die Fähre Verspätung hatte und er auf der Brücke gebraucht wurde, tat er dies nicht. Wäre er drei Minuten länger auf seinem Posten geblieben, wäre die Katastrophe vermutlich nicht passiert, heißt es im Untersuchungsbericht.

Ermittler führen Experiment am Schwesterschiff durch

Trotzdem: Allein offene Bugtore können laut Ermittlern nicht zum Untergang der Fähre geführt haben. Denn bereits vier Jahre zuvor hatte das Schwesternschiff der Fähre mit offenen Bugtoren Dover verlassen – ganz ohne Folgen. Die Tatsache, dass die Bugtore zudem drei Meter über dem Wasserspiegel liegen, erklärt auch nicht, warum so viel Wasser auf das Autodeck gelangen konnte. Es spielen also noch andere Faktoren eine Rolle: Zum einen, dass der Kapitän aufgrund der zu kurzen Laderampe die Ballasttanks geflutet hatte und den Abstand auf zwei Meter fünfzig verringerte. Außerdem entstand durch die Schiffsbewegung in dem flachen Wasser im Hafenbecken ein Unterdruck, der den Bug der Fähre nach unten zog und so den Abstand zwischen Bugtoren und Wasserspiegel noch einmal auf einen Meter fünfzig verringerte.

Um der Ursache genauestens auf den Grund zu gehen, führen Experten neun Wochen nach dem Unglück ein Experiment auf dem baugleichen Schwesterschiff der Fähre durch. Die Wetter- und Gezeitenbedingungen sind identisch. Als sie aus dem Hafen bei normaler Geschwindigkeit auslaufen, bricht die entstehende Bugwelle deutlich unter den Bugtoren und rollt nach vorn vom Schiff weg. Doch als sie die Fähre beschleunigen, verändert die Welle ihre Richtung nach hinten. Als schließlich die Höchstgeschwindigkeit erreicht ist, misst die Welle rund vier Meter und ist hoch genug, um die Bugtore zu fluten.

Autowracks aus der "Herald of Free Enterprise" werden geborgen
An Bord der Fähre waren zahlreiche Autos und Lkw, die anschließend aus dem Ärmelkanal geborgen werden mussten (Archivbild)
© Imago Images

Schätzungsweise strömen auf diese Weise 2000 Tonnen Wasser in gerade mal 30 Sekunden in das Innere der Fähre. Doch für den Untergang eines so großen Schiffes reichen selbst derartige Wassermassen nicht aus. Das Problem: Die "Herald of Free Enterprise" hat konstruktionsbedingt keine wasserdichten Abteilungen. Dadurch kann das gesamte Deck schnell be- und entladen werden, und die Fähre kann den Hafen schneller wieder verlassen. Ein großer Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Doch das größte wirtschaftliche Plus der Fähre sorgt auch für ihren Untergang.

Unternehmen Townsend Thoresen erhält Geldstrafe

Im Inneren folgen die Wassermassen den natürlichen Bewegungen des Schiffs, das auf See wie gewöhnlich leicht von einer Seite auf die andere rollt. Dabei folgt das Wasser immer dem tiefsten Punkt des Schiffes, das sich zunächst aber immer wieder aufrichten kann. Doch durch die schnell einströmenden Wassermassen wird es rasch instabil und verliert seinen Auftrieb. Es neigt sich – auch durch die verrutschende Ladung – immer weiter. Irgendwann ist soviel Wasser in der Fähre, dass sie sich nicht mehr aufrichten kann und zur Seite kippt.

Sieben Wochen nach dem Unglück schleppen Bergungsunternehmen die "Herald of Free Enterprise" in den Hafen.

Die Bergung der "Herald of Free Enterprise" im April 1987
Die Fähre, nachdem sie Anfang April 1987 wieder aufgerichtet wurde (Archivbild)
© Belga / Picture Alliance

Der Kapitän wird für ein Jahr vom Dienst suspendiert, sein Erster Offizier sogar für zwei. Der Untersuchungsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass mangelnde Vorkehrungen durch den Betreiber, das britische Unternehmen Townsend Thoresen, die Schuld an der Katastrophe tragen. Das britische Verkehrsministerium verhängt eine Strafe von 400.000 Pfund (damals etwa 1,2 Millionen DM).

Prominente sammeln für die Hinterbliebenen

Dem Zweiten Bootsmann wird eine schwere Vernachlässigung seiner Pflichten angelastet, er wird jedoch nicht bestraft. Wie er später den Ermittlern erzählte, wurde er in seiner Kabine von einem heftigen Ruck geweckt und sein erster Gedanke galt den Türen, die er vergessen hatte, zu schließen. Verzweifelt versuchte er noch, anderen zu helfen. Er erlitt eine Armverletzung, als er eine Scheibe einschlug, um eingeschlossene Passagiere zu retten. Schuldgefühle setzten ihm sein Leben lang schwer zu. Im Juli 2016 verstarb er im Alter von 58 Jahren.

Chinesische Drohnenboote im EInsatz
Chinesische Drohnenboote im EInsatz
© Bitprojects
Schwarmtechnologie: Chinesische Drohnen-Boote zur "Belagerung und Vertreibung" von Schiffen

Die britische Regierung unterzeichnete später in London eine mit anderen europäischen Ländern vereinbarte Sicherheitsbestimmung für sogenannte Ro-Ro-Fähren (Roll on-Roll off). Damit ein solches Unglück nicht mehr passiert, ermöglichen heute Kameras und Signalanzeigen den Fähr-Kapitänen, die Bugtore von der Brücke aus zu überwachen. Auch müssen die Fähren mit Trennschotten ausgestattet werden, die das Schiff im Falle eines Wassereinbruchs noch wenigstens 30 Minuten vom Kentern abhalten sollen.

Nach der Katastrophe ist die öffentliche Anteilnahme in Belgien, Großbritannien und anderen europäischen Ländern groß. So veröffentlichen britische Musiker wie Paul McCartney, Boy George und Mark Knopfler unter dem Namen Ferry Aid (Fährenhilfe) eine Coverversion des Beatles-Songs "Let it be". Der Erlös kommt den Hinterbliebenen zugute, deren Leben sich durch das Unglück für immer verändert. Auch heute noch gedenken die Briten und Belgier der Opfer.

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